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Kapitel 2: Theorien der Nation und der Grenze

2. Theorie der Grenze: die Border Studies

2.1. Unterschiede zur Nationalismusforschung

Während sich die Nationalismusforschung mit Fragen nach nationalen Zugehörigkeiten und dem Entstehen moderner Nationalstaaten beschäftigt, ist das Thema der so genannten Border Studies die Grenze der staatlichen, sozialen und kulturellen Einheiten, die sie umfasst. Eine der wichtigsten Aufgaben ist dabei die

46 Lars Erslev Andersen bemerkte im März 2006 auf einem Seminar zur „Begriffsgeschichte“

Reinhart Koselleks, dass das Weltbild des Kalten Krieges, mehr noch als eine politische

Aufteilung, eine Ordnung der Welt darstellte. Die Hauptbedrohung Sowjetunion wurde seit 2001 abgelöst vom internationalen Terrorismus, einem Begriff, der laut Erslev Andersen seit dem 11.

September 2001 einen starken Wandel erfahren habe.

47 Für Deutschland, siehe Jürgen Osterhammel: Die Wiederkehr des Raumes. Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie. In: Neue politische Literatur, Vol. 43, 1998, S. 374-394.

48 Im Folgenden wird alternativ die deutsche Übersetzung „Grenzstudien“ benutzt.

Erforschung von nationalstaatlichen Grenzen in Geschichte und Gegenwart, jedoch nicht die einzige. Auch aufgrund der Vielschichtigkeit der Grenzstudien hat sich bisher noch keine einheitliche Theorie oder gar Definition der Grenze durchgesetzt.

Einige Studien, die den Border Studies durchaus zugerechnet werden können, wenden sich primär dem „Frontier“ - Phänomen zu, beispielsweise Untersuchungen mit afrikanischem Schwerpunkt.49 Es können wiederum nicht ohne weiteres sämtliche Regionalstudien in deutschen Grenzräumen den Grenzstudien zugeordnet werden. Gerade das deutsch-dänische Grenzland weist sich durch eine rege Forschungslandschaft auf beiden Seiten der Grenze aus, diese Studien sind jedoch eher in der Regional- bzw. Landesgeschichte angesiedelt und haben eine empirisch-quellennahe Schwerpunktbildung.

Viele der neueren Grenzstudien sind entweder explizit oder implizit auf den meist internationalen Vergleich ausgerichtet. Es lässt sich außerdem ein Hang zu fächerübergreifender Methodik beobachten, was für den überwiegenden Teil der Untersuchungen gilt. So lassen sich geschichtliche Grenzstudien von anthropologischen Arbeitsweisen inspirieren oder umgekehrt. Ich sehe meine Untersuchung als Teil dieses Forschungszweiges.

Während die Nationalismusforschung verschiedene „Flügel“ hat und sich die meisten Untersuchungen anhand der zitierten Sekundärliteratur schnell zu der einen oder anderen Richtung zuordnen lassen, ist dies bei den Grenzstudien nicht der Fall.

Da sie fächerübergreifend sind, gibt es in mehreren Fächern eigene Traditionen, die sich wiederum in die fachinternen Diskussionen einreihen. Der niederländische Geograph Henk van Houtum hat die geographiewissenschaftlichen Grenzstudien dargestellt.50 Peter Sahlins wiederum hat die überwiegend politologischen und

49 Michael Rösler und Tobias Wendl (Hrsg.): Frontiers and Borderlands. Anthropological Perspectives. Frankfurt a.M. 1999; Turner 1889.

50 Henk van Houtum: An Overview of European Geographical Research on Borders and Border Regions. In: Journal of Borderlands Studies, Vol. 15, Nr. 1, 2000, S. 57-83.

historischen Grenzstudien der Vor- und Nachkriegszeit in Frankreich vorgestellt.51 Diese „Flickschusterei“ ist einerseits eine Schwäche in dem Sinne, dass es wohl diskutiert werden kann, ob sich überhaupt von den Grenzstudien sprechen lässt;

andererseits ist hier vielleicht gerade ein eigenes Fach im Entstehen, das seine Methodik aus mehreren Quellen schöpfen kann und damit extrem flexibel ist.

„Einige Dinge können sich nur an Grenzen ereignen“.52 Mit dieser Aussage beschreibt der irische Anthropologe Hastings Donnan ein wesentliches Merkmal sowohl der Grenze selbst als auch der ihm eigenen anthropologischen Betrachtungsweise. Er verbindet in seiner Aussage die Grenze mit bestimmten Ereignissen, sie ist nicht nur politische und physische Gegebenheit, sondern löst bestimmte Handlungsmuster aus und verhindert andere. Das Zitat ist typisch für neuere anthropologische Studien, aber sie stellt nicht die einzige Art dar, Grenzen und Grenzräume zu betrachten.

Wie im ersten Kapitel bemerkt, entstand meine Beschäftigung mit der Grenzsituation als logische Fortsetzung der Arbeit mit nationalen Theorien, die wenig bis gar keine Ansätze für die spezielle Lage bieten, in der Grenzregionen sich befinden. Doch erst einmal erscheinen die Grenzstudien sehr unübersichtlich. Es gibt zwar viele theoretische Studien, aber diese sind meist der Methode ihres eigenen Faches verhaftet. Und warum gibt es keine gemeinsame Grenztheorie in den Sozial- und Kulturwissenschaften? Auf diese Frage hat David Newman versucht, eine Antwort zu geben:

51 Siehe Peter Sahlins: Natural Frontiers Revisited. France´s Boundaries in the 17th Century. In:

American Historical Review, 95, 1990, S. 1423-1451.

52 Hastings Donnan und Thomas M. Wilson: Borders. Frontiers of Identity, Nation and State.

Chicago 1999, S. 4.

”The meaning of what constitutes a border for one is not always compatible for another, with the disciplinary semantics and terminologies remaining a significant barrier to a full fusion of ideas.”53

Die bisherigen Versuche, einen Überblick über die Grenzstudien zu schaffen, seien wegen der semantischen Unterschiede meist auf die eigenen, fachinternen Studien gerichtet, so Newman. Ein Beispiel für eine solche Übersicht ist Henk van Houtums Systematisierung innerhalb der geographischen Grenzstudien. Sein System ist umfassend und logisch konsistent, kann aber auch kritisiert werden. Traditionell herrsche in der Geographie eine Tradition vor, die van Houtum als „flow approach“

bezeichnet.

Mit dieser Bezeichnung stimme ich nicht überein, denn es geht gerade darum, dass kein ”flow” hergestellt wird, bzw. die Grenze diesen Fluss behindert. Houtum nimmt Bezug auf August Lösch, der in einer Studie aus dem Jahre 1940 Grenzregionen als periphere Gebiete ausmacht. Die Grenze stellt die Barriere zu wachsendem Wohlstand dar, ist also ein Gegner einer modernen, gesunden Wirtschaftsentwicklung. Diese Dominanz der Wirtschaftsgeographie habe sich laut van Houtum auch in dem zweiten skizzierten Ansatz, dem „cross-border approach“

fortgesetzt, der seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts „mainstream“ geworden sei.54 Darin unterscheidet die Geographie sich von den historischen Ansätzen, wo noch nicht von einem „mainstream“ der cross-border Studien gesprochen werden kann. Van Houtum nimmt auch Bezug auf die soziologischen Untersuchungen Geert Hofstedes. Dessen Einfluss auf die wirtschaftlich geprägten Studien hätten dazu geführt, dass die Grenzstudien eine moralisierende Richtung bekämen: Grenzen als

„barriers to success or a prosperous integration“.55 Einen dritten Forschungszweig, der zur Zeit im Kommen sei, nennt van Houtum den „people approach“, in dem

53 David Newman: Keynote paper, presented at the international conference on: “Crossing Borders, Histories and Identities.” Centre for Cross Border Studies, University of Glamorgan, Wales, UK, 2.-4. Dezember 2004.

54 van Houtum 2000, S. 62.

55 Ebd., S. 64.

nicht mehr die abgrenzende Funktion der Grenze in den Vordergrund gestellt werde, sondern ihre soziale Konstruiertheit.

Henk van Houtums Aufteilung der Grenzstudien in drei Hauptkategorien erscheint als äußerst sinnvoll, denn diese Trends finden sich auch in der nicht-geographischen Fachliteratur wieder. Es mag jedoch an der Tragfähigkeit seiner Kategoriebezeichnungen gezweifelt werden, weshalb im Folgenden mein eigener Versuch einer Systematisierung vorgestellt wird.