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Kapitel 2: Theorien der Nation und der Grenze

1. Nationalismusforschung

1.1. Die deutsche Entwicklung seit 1800

Johann Gottlieb Fichtes Vorlesungen an der Berliner Universität, die „Reden an die deutsche Nation“ von 1807, werden gerne als grundlegende Texte eines erwachenden nationalen Gedankens in den deutschen Staaten gedeutet. Im Jahr nach der Auflösung des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ äußerte der Philosoph darin seine an der Romantik orientierten Gedanken. Seine Vorlesungen erreichten eine gewisse Breitenwirkung und trafen den Zeitgeist. Der Unmut über die napoleonische Herrschaft wird seitdem gerne als einer der auslösenden Faktoren eines deutschen Nationalgefühls genannt.

Der Wiener Kongress 1814/15 strebte in erster Linie eine Wiederherstellung der vor-napoleonischen Ordnung an. Eine der Folgen war, dass das alte deutsche Reich zwar nicht wieder auferstehen konnte, an seine Stelle jedoch eine andere föderative Vereinigung der deutschen Kleinstaaten treten musste, die beschlussfähig war, ohne eine Zentralmacht zu sein. Das Bedrohungsszenario der Europäer war das eines starken deutschen Einheitsstaates in der Mitte Europas. Davon waren die deutschen Staaten jedoch weit entfernt.

Der Deutsche Bund wurde 1815 gegründet, eine Ausweitung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit kam zu Stande der Zollunion 1831, mit der erstmalig eine Freihandelszone zwischen einer Reihe deutscher Staaten entstand. Diese praktische Zusammenarbeit war noch weit entfernt von einem eigentlichen Nationalstaat. Die deutsche Nation streckte sich, wie im bekannten Vaterlandslied Ernst Moritz Arndts

geschrieben stand, „soweit die deutsche Zunge klingt“.2 Dieses Verständnis der deutschen Nation als kultureller und sprachlicher Gemeinschaft und weniger als geopolitischer Realität, wurde mit diesem Lied verankert. Keiner der deutschen Kleinstaaten, auch nicht Preußen oder Bayern, erhob sich zum Repräsentanten der ganzen deutschen Nation. Die Befugnisse des Deutschen Bundes waren stark eingeschränkt, die Souveränität lag bei den einzelnen Staaten. Das föderative Element ist noch heute ein Aspekt Deutschlands. Dieter Langewiesche hebt sogar den Föderalismus als ein spezielles Merkmal der deutschen nationalen Identität hervor und schreibt, diese Traditionen ließen sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen.3

Die so genannte Restaurationsphase war eine konservativ geprägte Zwischenzeit, in der frühnationale und demokratische Ideen wieder unterdrückt wurden. Trotzdem bildeten sich in der scheinbar so unpolitischen „Reaktion“ de Facto politische Vereine.

Die wichtigsten waren dabei die Männergesangsvereine4. Auch die Turnerbewegung war keine offen politische Bewegung, da dies in der Reaktionszeit schnell zu einem Verbot hätte führen können.5 Die „Ertüchtigung der Jugend“ hatte auch einen ideologischen Zweck, der von dem Gründer der Turnbewegung, Friedrich Ludwig

2 ”Was ist des deutschen Vaterland” wurde durch die Sängerbünde einem großen Publikum bekannt gemacht. Es entstanden mehrere Melodien zum gleichen Text. Siehe auch Otto Holzapfel: Deutsch-dänische Grenz- und Anpassungsschwierigkeiten. Patriotismus und Nationalismus im Spiegel einiger schleswig-holsteinischer Liederbücher von 1802 bis 1864. In:

Jahrbuch für Volksliedforschung, Vol. 27/28, 1982/83, S. 225-234.

3 Die vier Siegermächte legten bei der Bildung der Bundesrepublik 1949 besonderen Wert auf ein stark föderatives Element. Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Europa und Deutschland. München 2000.

4 Anhand der Sängerbünde lässt sich verfolgen, wie sich nationales Gedankengut über größere Teile der Bevölkerung ausbreitete. Die Vereine wurden zum festen Bestandteil des kulturellen Lebens, zum Informationsverteiler und Ort der politischen Sozialisierung. Für Schleswig-Holstein, siehe Henning Unverhau: Gesang, Feste und Politik: deutsche Liedertafeln, Sängerfeste, Volksfeste und Festmähler und ihre Bedeutung für das Entstehen eines nationalen und

politischen Bewusstseins in Schleswig-Holstein 1840-1848. Frankfurt a. M. 2000.

5 Der erste deutsche Turnverein wurde 1811 auf der Berliner Hasenheide gegründet.

Langewiesche 2000, S. 103-131.

„Turnvater“ Jahn formuliert wurde.6 Das Bild des „gesunden Körpers“ wurde auf die deutsche Nation übertragen, die Arbeit am Körper war damit nicht länger eine persönliche Angelegenheit, sondern diente der nationalen Aufgabe.

Die Aufstände im Jahre 1830 waren für die europäischen Machthaber besorgniserregend. Man befürchtete eine größere Rebellion gegen die zunehmend als rückständig erlebten Monarchien. Doch außer im dänischen Gesamtstaat, der durch die Einführung des so genannten Junigrundgesetzes 1849 dem Ruf nach einer demokratischeren Ordnung zuvorkam und damit einen Aufstand vermied, wartete man erst einmal ab.7 1848 kam es erst in Paris, später auch in den deutschen Staaten zu Aufruhr. Erstmals bildete sich eine deutsche revolutionär-demokratische Bewegung mit Zentrum in der Paulskirche in Frankfurt, die für eine kurze Zeit erfolgreich arbeitete. Doch es zeigte sich schnell, dass die Bewegung kaum Chancen gegenüber den reaktionären Kräften sowohl innerhalb der deutschen Kleinstaaten als auch im europäischen Ausland hatte. In dieser Phase zeigte sich auch, wie sehr die nationale mit der demokratischen Frage verbunden war.

Die deutsche Einigung 1871 war bekanntermaßen kein demokratisches Projekt mehr, sondern Teil der Bismarckschen Machtpolitik. Die deutsche Entwicklung zum Nationalstaat wurde seitdem ausführlich diskutiert. Man sprach lange von der so genannten „verspäteten Nation“. Die „Verspätung“ ergibt sich aus dem Vergleich mit anderen europäischen Nationen, die früher als die Deutschen einen eigentlichen Staat besaßen und von dieser territorialen Einheit aus ihr Nationalbewusstsein aufbauen konnten. Die Sonderwegs-These hängt mit dieser vermeintlichen Verspätung zusammen. Die deutsche Nation, so die Vorstellung, hatte eine ungewöhnlich kurze Phase der demokratischen Anpassung.

6 Dieser sah im Turnen eine Vorbereitung auf zukünftige Konflikte auch militärischer Art und verband die Gymnastik mit einer Zivilisationskritik – „der Turner sollte sich den Städten entziehen, Orten der Bequemlichkeit und der Mode“. Langewiesche 2000, S. 123.

7 Claus Bjørn: 1848: Borgerkrig og revolution. Kopenhagen 1998.

Das große Interesse, das die deutsche Entwicklung zum Nationalstaat hervorgerufen hatte, lag auch in dem Bedrohungspotential begründet, das ein deutscher Einheitsstaat inmitten von Europa hatte. Erst mit der Einbindung in ein westlich orientiertes internationales System nach 1949 wurde die Angst der Nachbarstaaten geringer. Doch das große Interesse an der deutschen nationalen Entwicklung - auch innerhalb der Nationalismusforschung - liegt nicht nur in der politisch-militärischen Bedrohung von einst begründet, sondern auch in der Vielschichtigkeit der deutschen Entwicklung. Die frühe nationale Idee war eng verbunden mit dem Wunsch nach einem Ende der „Fürstenherrschaft“. Das Ancien Régime hatte sich selbst überlebt, auch in anderen europäischen Ländern, und es wurde der Ruf nach einer Umverteilung der politischen Machtverhältnisse laut. In den deutschen Staaten kam der Wunsch nach einem einheitlichen und demokratischen Nationalstaat dazu. Doch was ist eigentlich mit Demokratie gemeint?

1. 2. Nationalismus und Demokratie: Definitionen

Der Wunsch nach Demokratie und einem Nationalstaat waren in der frühen deutschen Nationalbewegung (bis 1848) eng miteinander verbunden: Nationalismus ist keinesfalls gleichzusetzen mit der Art von agressivem Nationalismus, wie ihn das 20. Jahrhundert gesehen hat. Der Demokratiebegriff selbst geht auf die griechischen Wörter Demos (das Volk) und Kratein (beherrschen) zurück, wobei die Idee der Volksherrschaft sich im antiken Griechenland auf einen weitaus kleineren Teil der Bevölkerung bezog. Der Wunsch, eine optimale Form des menschlichen Zusammenlebens zu finden, ist der Ursprung dieser ersten Demokratieversuche.

Im Laufe der darauf folgenden Jahrhunderte wurden sehr verschiedene Antworten auf die Frage gegeben, wie eine Gesellschaft sich im Idealfall formieren solle und welche Herrschaftsform die beste sei. Auch die monarchistische Staatsideologie basierte auf der Vorstellung, dass die Alleinherrschaft die effektivste aller Herrschaftsformen sei:

„Monarchy was absolute by definition. (…). Since monarchy concentrated power in the hands of one individual (…), it was a political commonplace that it was the most effective form of government. It was contrasted with republican arrangements, (…) vulnerable to paralysis and delay.” 8

Die Ursprünge sowohl der modernen Demokratie als auch des Nationalismus als politische Ideologie werden gewöhnlich auf die Zeit um die Französische Revolution 1789 zurückgeführt, wo sich der Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit Luft machte gegenüber den absolutistischen Machthabern, die zunehmend als korrupt und unterdrückend erlebt wurden - der Absolutismus hatte seine Legitimität verloren. Vorbereitet wurden diese politischen Umwälzungen durch eine neue geistige Strömung, die sich in den frühliberalen Schriften Rousseaus und Voltaires niederschlug. Auch die amerikanische Unabhängigkeit 1776 und die Werke eines John Stuart Mills beflügelten die Revolutionäre.

Klarheit darüber, wie Nationalismus definiert werden soll, besteht nicht. Die Unterschiedlichkeit der Auffassungen geht dabei auf die zentralen Debatten der Nationalismusforschung zurück, d.h. auf die Fragen nach Definition sowie nach der (zeitlichen) Entstehung und Entwicklung des Phänomens. John Breuilly beispielsweise fokussiert auf den Staat und definiert den Nationalismus als politische Bewegung:

„The term ´nationalism` is used to refer to political movements seeking or exercising state power and justifying such actions with nationalist arguments”.9

Während sich Breuilly an einer politischen Definition vom Nationalismus versucht, spricht Ernest Gellner lieber von der Nation, die er wie folgt beschreibt:

8 Nicholas Henshall: The Myth of Absolutism. Change and Continuity in Early Modern European Monarchy. London 1992, S. 123.

9 John Breuilly: Nationalism and the State. Chicago 1985, S. 3.

„In fact, nations, like states, are a contingency, and not a universal necessity. Neither nations nor states are at all times and all circumstances (…). Nationalism holds that they were destined for each other (…), but before they could become intended for each other, each of them had to emerge (…).”10

Bei Gellner ist der Nationalismus weniger politische Bewegung als Ideologie.

Außerdem ist in dem Zitat erkennbar, wie Gellner die Nation primär als modernes Phänomen sieht. Eine zeitliche Begrenzung findet sich auch bei Miroslav Hroch, der die Nation als einen speziellen Typus einer großen sozialen Gruppe sieht.11 Auch Benedict Anderson spricht von sozialer Gruppe, wenn er schreibt, die Nation sei

„eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän“.12

Diese Beispiele verdeutlichen, wie verschieden die Begriffe Nation und Nationalismus verstanden werden können.

In seiner Rede “Qu`est-ce qu´une nation?“ aus dem Jahre 1882 beginnt der Sprachwissenschaftler Ernest Renan mit der Aussage, eine Nation sei eine Seele, ein spirituelles Prinzip.13 Die Nation währte laut Renan nicht ewig, zum jetzigen Zeitpunkt sei sie aber der Garant für die Freiheit.14 Für ihn ist sie eine Schicksalsgemeinschaft, jedoch eine, die unabhängig von „Rasse und Sprache“

funktioniert. Die Nation ist bei Renan eine „tägliche Volksabstimmung“, hierin liegt auch wieder ein Verweis auf die demokratischen Wurzeln des Nationalitätenbegriffes.

10 Ernest Gellner: Nations and Nationalism. London 1983, S. 6.

11 Miroslav Hroch: Social Preconditions of National Revival in Europe. A comparative analysis of the social composition of patriotic groups among the smaller European nations. New York 2000, S. 4.

12 Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts.

Erweiterte Ausgabe, Frankfurt 1998, S 14.

13 Zitiert aus: John Hutchinson, Anthony D. Smith (Hrsg.): Nationalism. Oxford Readers, Oxford 1994, S. 17.

14 Ebd., S. 18.

An Renans Text ist die Doppeldeutigkeit des Nationalen deutlich ersichtlich: Das Wort Nation kann im Deutschen ebenso wie in den meisten anderen europäischen Sprachen sowohl kulturell als auch staatsrechtlich verstanden werden. Die Nation kann somit dem Nationalstaat, einer speziellen Staatsformation, und einer kulturellen und symbolischen Schicksalsgemeinschaft gleichgesetzt werden. Diese zweite Bedeutung des Wortes Nation geht auf die oben genannten Vorstellungen vom demokratischen Einfluss des Volkes zurück und umfasst jeden Menschen, der der jeweiligen Nation angehört. Aber Teil einer kulturellen nationalen Gemeinschaft zu sein und die Staatsbürgerschaft in einem bestimmten Nationalstaat zu erwerben, ist nicht dasselbe.

Die Zugehörigkeit zu einer Nation, die Nationalität, ist demnach mehr als nur die Staatsangehörigkeit. Sie ist vielleicht „Schicksalsgemeinschaft“ und somit der Nachfolger religiöser Gemeinschaften, die sich im Zuge der Säkularisierung auflösten. Sie ist vielleicht wirtschaftliche Notwendigkeit in einer modernen Zeit, die mobile Arbeiter mit kompatiblen Ausbildungen erfordert, so dass diese überall dorthin ziehen können, wo die Arbeit ist.

Im Folgenden sollen einige Ansätze von Nationalismusforschern herangezogen werden, die für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sind. Es handelt sich dabei um die Theoriebildungen Theodor Schieders, Ernest Gellners und Benedict Andersons.