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Kapitel 2: Theorien der Nation und der Grenze

1. Nationalismusforschung

1.3. Theodor Schieders Typologie der Nationalstaaten

Der deutsche Historiker Theodor Schieder (1908 bis 1984) setzte sich in seiner langen Laufbahn intensiv mit dem Thema Nationalstaat auseinander. Seine in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts verfassten Schriften unterscheiden sich dabei von seinen in den 50er und 60er Jahren publizierten Artikeln, die von einer kritischen Distanz

zur nationalsozialistischen Zeit und ihren „völkischen“ Anschauungen geprägt sind.

Einerseits sieht er den Nationalisierungsprozess in seiner temporären Entwicklung seit 1789, andererseits schafft er daraus eine Typologisierung, die eine räumliche Dreiteilung der europäischen Staaten konzipiert. Wie auch bei Hans Kohn ist das Hauptaugenmerk bei Schieder auf Europa gerichtet, aber er versucht bereits in den 50er Jahren explizit, Kohns damals weit verbreitetes Modell einer West-Ost-Aufteilung auszubauen:

„Ich möchte meinen, dass das Drei-Phasen-Schema historisch ergiebiger ist als die sonst allgemein üblich gewordene Unterscheidung eines westeuropäischen und deutsch-mitteleuropäischen Nationsbegriffs, die viele Nuancen unterschlägt“ 15

Die Entwicklung der Nationalstaaten begreift Schieder in seinem eigenen Modell als herausragendes Moment der Moderne. Frankreich und Großbritannien werden in Schieders Modell als Beispiele für den ersten Grundtypus dargestellt. Sie wurden als moderne Nationalstaaten um 1789 gebildet, wobei die Ursprünge dieser westeuropäischen Staaten deutlich früher liegen. Zu dieser Kategorie lassen sich auch die Niederlande und Dänemark zählen.

Der klassische Vertreter des zweiten Typus ist Deutschland. Hier bestand schon vor der eigentlichen Staatsgründung eine Kulturnation, die sich aber auf keine juristischen und politischen Apparate stützen konnte. In diesem zweiten Modell taucht auch erstmals das Nationalitätenprinzip bzw. -problem auf. Im schiederschen

„Nationalitätenproblem“, das heute vielleicht eher mit dem Begriff

„Minderheitenproblematik“ bezeichnet wird, kann eine - auch zeitliche - Entwicklung beobachtet werden. „Die Nation erscheint als vor dem Staat gegeben.“16 Vom „Nationalitätenprinzip“ – der Idee vom Gleichklang zwischen Nationalstaat

15 Otto Dann und Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Theodor Schieder: Nationalismus und Nationalstaat.

Studien zum nationalen Problem im modernen Europa. 2. Auflage, Göttingen 1992, S. 72, Fußnote 8. Damit kann nur das Kohnsche Modell gemeint sein.

16 Ebd., S. 69. Hervorhebung die Verf.

und Nation/Volk – zum eigentlichen „Nationalitätenproblem“ dauert es eine Weile, denn das Problem taucht erst auf, wenn Nationen tatsächlich gebildet werden.17 Schieder arbeitet hier mit dem Konflikt zwischen kulturellem und staatsrechtlichem Nationalitätenverständnis, der bereits früher angesprochen wurde.

Der dritte Typus in Schieders Modell der Entwicklung von Nationalstaaten ist der osteuropäische. Hier hat sich die Problematik verschärft und „der bestehende Staat ist das Fremde“.18 Als klassisches Beispiel mag hier die polnische Entwicklung genommen werden. Polen war seit den drei Aufteilungen im 18. Jahrhundert die meiste Zeit von der Landkarte verschwunden, das Kernland aufgeteilt zwischen Preußen, Russland und Österreich.19 Trotzdem entwickelte sich ein polnisches Nationalbewusstsein, und ein neuer polnischer Staat konnte 1920 gegründet werden.

Das Ziel in diesem dritten Modell Schieders ist eine Abtrennung oder eine andere Form von Neuordnung des Raumes, wie sie für Polen nach dem 1. Weltkrieg möglich wurde.

Speziell bei diesem dritten Typus wird man an die Kategorisierungen Miroslaw Hrochs erinnert.20 Dieser versuchte, den Ursachen von Nationalbewegungen auf den Grund zu gehen und herauszufinden, welche sozialen und kulturellen Bedingungen eine gelungene Verselbstständigung begünstigen und welche eine solche verhindern könnten. - Die polnische Geschichte könnte sicherlich als Lehrstück für all die Voraussetzungen dienen, die nicht gegeben waren und wo es den national Gesinnten dennoch gelang, ihre Forderungen durchzusetzen.21

17 In der heutigen Minderheitenforschung spricht man von einem Kin State, einem Mutterstaat, so ist Dänemark der Kin State der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein. Die Friesen oder die Sorben zum Beispiel haben aber keinen solchen Mutterstaat.

18 Dann/ Wehler 1992, S. 71.

19 Die Ausnahme was das so genannte Kongress-Polen ab 1815, was aber keine wirklich unabhängige Staatsformation war. Vgl. Norman Davies: God´s Playground. A history of Poland.

Volume II: 1795 to the Present. Oxford 1981.

20 Miroslav Hroch: Social Preconditions of National Revival in Europe. A comparative analysis of the social composition of patriotic groups among the smaller European nations. New York 2000.

21 Die Gründe waren ein Zusammenspiel von einer erstarkenden Nationalkultur und taktischer Arbeit des Marschalls Piłsudski 1919/20. Davies 1981, S. 392.

Schieders drei Idealtypen machen deutlich, dass für ihn der Nationalstaat als

„ordnendes Prinzip“ auftritt und als „universalhistorisches Phänomen“22 zu sehen ist, in der die europäischen Entwicklungen nur als Beispiele herangezogen werden.

Relevant wird Schieders Modell besonders durch seine Verbindung von räumlicher und temporärer Perspektive. Zeitlich unterscheidet er zwischen Frühphase (vor 1848), Kernphase (1848 bis 1920) und Spätphase (ab 1920). Diese drei Epochen verknüpft er jeweils mit den drei räumlichen Typologien. So wird Frühphase mit den westeuropäischen Nationsbildungen verbunden, die mittlere Phase mit Mitteleuropa/primär Deutschland, und in der Spätphase nach 1920 entwickelten sich laut Schieder die osteuropäischen Staaten.

Der wohl naheliegendste Einwand gegen Schieders Modell wird von Otto Dann im Vorwort der Schieder - Edition von 1992 angesprochen: Das Modell suggeriere, der Nationalstaatwerdungsprozess sei bereits abgeschlossen und lediglich „historisch“

zu erfassen. Die Wirklichkeit sehe aber anders aus, da die Aktualität der nationalen Problematik seit dem Fall der deutschen Mauer wieder stark zugenommen habe.

Auch wenn Theodor Schieder ein umfassendes Modell der Bildung von Nationalstaaten anstrebte, war es ihm doch klar, dass einige Staaten immer noch aus dem Raster herausfallen. Speziell die Schweiz fing dabei Schieders Interesse ein.

Dieser Staat dient ihm als Beispiel für den gelungenen Föderalismus. Föderale Traditionen, so Schieder, gab es sowohl in konservativer als auch in liberaler Tradition, wobei die erstere sich auf das alte Deutsche Reich und Österreich, letztere auf die Schweiz und die USA bezog. Besonders interessiert ihn dabei die territoriale Autonomie innerhalb des Staatenverbundes. Vielleicht lag das Interesse auch in der bundesrepublikanischen Situation begründet, jedenfalls erinnern seine Ausführungen an Dieter Langewiesches Bemerkungen zum deutschen Föderalismus.23

22 Dann/ Wehler 1992, S. 65.

23 Siehe den vorherigen Abschnitt.

Ein weiterer Punkt, der an dieser Stelle eine Erörterung verdient, ist die Sprachproblematik, der sich Schieder wiederkehrend widmet.24 Die Sprachfrage hat bei Schieder zwei Aspekte. Erstens gibt es eine Sprachpolitik, die Teil der

„Uniformierung“ im Zuge einer Nationalstaatwerdung ist.25 In diesem Prozess werden Regionalsprachen und Dialekte der gemeinsamen Kultursprache angepasst und untergeordnet, was Schieder nicht ausschließlich negativ deutet.26 Der Nationalsprache räumt er keine zentrale Position ein, sie ist nicht primordial naturgegeben, sondern wird erst geschaffen im nationalstaatlichen Uniformierungsprozess.27 Der wichtigere Aspekt der Rolle der Sprache liegt jedoch in dem Widerstand, den diese Vereinheitlichungspolitik hervorrufen kann:

„Auf dem Höhepunkt der nationalistischen Sprachenkonflikte ist es in der Regel um einen politischen Machtkampf gegangen, den eine nationale Mehrheit (…) gegen sprachlich-nationale Minderheiten führte, und zwar überwiegend mit staatlichen Mitteln: mit Sprachverbot, Schulzwang, Rechtsvorschriften.“28

In diesem Kontext sieht er auch Forderungen nach sprachlicher

„Selbstverwirklichung ohne Rücksicht auf politische Grenzen und Mächte“, die sich meist ausweiten und „die Idee der Selbstverwirklichung der nationalen Sprache an die Einheit von Nationalstaat und Nationalsprache (knüpfen)“.29 Es wird bei diesem Zitat deutlich, dass Schieder einerseits eine äußerst pragmatische Einstellung zur Sprache hat und andererseits das Feld der Sprache und Sprachpolitik als Ort des Kampfes um gesellschaftliche Macht sieht. Was er mit anderen Worten sagt, ist: der Sprachkampf ist ein Scheinkampf, der auf der Bühne der national-kulturellen

24 In: Dann/ Wehler 1992.

25 Ebd., S. 78.

26 Ebd., S. 78.

27 Hier wird eine Parallele zur Theorie Benedict Andersons deutlich.

28 Ebd., S. 79.

29 Ebd., S. 77.

Argumente ausgefochten wird, der in Wahrheit aber von gesellschaftlicher und politischer Dominanz handelt.

Eine ähnlich pragmatische Einstellung zur Sprache hat auch Ernest Gellner, dessen Theoriebildungen im folgenden Abschnitt vorgestellt werden sollen. Anders als bei Theodor Schieders Arbeit, die bereits vor dem 2. Weltkrieg begann, ist Ernest Gellners Werk ganz in der Nachkriegszeit angesiedelt. Seine späten Schriften setzen sich zudem mit dem Erstarken von nationalen Bewegungen nach 1990 auseinander.