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Teil 1: Fragestellungen, Methodik, Theorie

1. Einführung in das Thema

1.1. Fragestellungen und Probleme

Jeder Doktorand erlebt wohl, dass sich die zentrale Fragestellung ändert. Dies ist ein natürlicher Prozess, denn je mehr man sich mit einem gegebenen Thema auseinandersetzt, desto mehr wird deutlich, in welchen Bereichen die eigentlichen Kernprobleme liegen und welche Felder des jeweiligen Forschungsbereiches noch brachliegen. Die ursprüngliche Fragestellung verliert damit ihre Relevanz und bleibt meist unerwähnt. Im vorliegenden Falle soll diese jedoch näher betrachtet werden, um somit sowohl den veränderten Interessenschwerpunkt als auch den geänderten theoretischen Ansatz darzulegen.

Welche Rolle spielte die deutsche Sprache bei der Herausbildung einer nationalen Identität im Herzogtum Schleswig und in Ostfriesland im Zeitraum von 1815 bis 1867? Was bedeutete es, deutsch zu sein in einem multikulturellen Gebiet? Wie funktionierte die Nationsbildung auf regionalem Niveau? – Diese Fragen beinhalteten vor allem die Suche nach einem Erklärungsmuster in der empirischen Untersuchung. Sie beinhalteten auch den Wunsch, feststellen zu können, was denn nun „deutsch“ sei und welche Eigenschaften oder Merkmale mit dieser Kategorisierung einhergingen. Zu diesen Fragestellungen sollen drei Bemerkungen gemacht werden.

Es hat sich erstens gezeigt, dass sich die nationale Identität bei näherem Hinsehen verflüchtigt. Sie lässt sich schlecht greifen, denn sie speist sich aus dem Anderssein, d.h. aus dem, was sie nicht ist. Im dänischen Kontext ist dieses Anti-Bild für den hier behandelten Zeitraum das Deutsche. Die zugeschriebenen nationalen Eigenschaften spiegeln somit sowohl das dänische Selbstbild als auch die abgespalteten Negativ-Bilder wider, die auf die deutsche Nationalität gewissermaßen übertragen wurden.4

4 Einige gehen so weit zu sagen, das Nationale existiere ausschließlich im Spiegel des Anderen.

Michael Harbsmeier: Danmark: Nation, kultur og køn. In: Stofskifte. Tidsskrift for Antropologi. Nr. 13, 1986, S. 47-73.

Zweitens bewegen sich Untersuchungen zum Nationalen gerne auf dem „Akteurs“- Niveau der nationalen Bewegungen. Man kann die Vereinsgeschichte studieren, die nationale Symbolik in ihren verschiedensten Äußerungen oder kann einzelne Personen herausziehen, die sich durch ihren politischen Werdegang hervorgetan haben. Das empirische Material ist umfassend, und deshalb konzentrieren sich die einschlägigen Studien gerne auf einen Ort oder einen stark eingegrenzten Zeitraum.5

Der dritte Punkt, den es angesichts der anfänglichen Fragestellung hervorzuheben gilt, ist die Rolle der Sprache. Angefangen bei den Schriften Herders und anderer Vordenker des Nationalen, auf die später noch einzugehen sein wird, nimmt die Sprache eine zentrale Rolle in der nationalen Bewusstwerdung ein. Der Volksgeist, so die Vorstellung, äußere sich in der Volkssprache, und diese wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend mit der Nationalsprache gleichgesetzt.6

Doch wie umgehen mit einer Region, die geprägt ist von Pragmatismus und Mehrsprachigkeit? Das Ostfriesland des beginnenden 19. Jahrhunderts beispielsweise war ähnlich wie die Niederlande konfessionell gespalten. Im westlichen, überwiegend calvinistisch - reformierten Teil, dem auch die wichtige Hafen- und Handelsstadt Emden angehört, war Niederländisch traditionell die Sprache von Kirche, Schule und Verwaltung. Im Osten wurde Deutsch gleichgesetzt mit dem lutherischen Glaubensbekenntnis und dem Grafenhaus der Cirksena, welches sich seit Jahrhunderten einen Kompetenzstreit mit den einflussreichen Calvinisten lieferte.

Sprache war und ist – so der hier vertretene Ansatz – nicht Ausdruck einer bestimmten Bedeutung. Sprache ist kulturelle Metapher, und ihre Bedeutung erschließt

5 Für das ehemalige Herzogtum Schleswig, siehe z.B. Gottlieb Japsen: Den nationale udvikling i Åbenrå 1800-1850. Apenrade 1961. Zur nationalen Symbolik siehe Inge Adriansen: Nationale symboler i Det danske Rige. 2 Bände, Kopenhagen 2003.

6 Claus Ahlzweig: Muttersprache – Vaterland. Die deutsche Nation und ihre Sprache. Opladen 1994.

sich im Kontext.7 Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatten weite Teile des Flensburger Bürgertums keine Schwierigkeiten, dänische Königstreue mit deutscher Alltagssprache zu verbinden.8 Erst im Zuge der nationalpolitischen Konflikte um 1848 änderte sich dies, und viele Familien, die sich auf die dänische Seite schlugen, erlernten erst dann die dänische Sprache. Dieser Pragmatismus war möglich, weil Sprache eben nicht naturgegebener Bedeutungsträger ist, sondern als solcher gedeutet werden kann, aber nicht muss.

In diesem Sinne lautet die zentrale Fragestellung:

Welche Rollen und welche Aufgaben wurden der Sprache zugeschrieben bei der Konstruktion einer nationalen Identität in den Grenzräumen Schleswig und Ostfriesland (1815-1867)?

Diese Veränderung der zentralen Fragestellung erklärt sich aus verschiedenen Erkenntnissen, die im Folgenden näher erläutert werden sollen.

Erstens ist die Bedeutung des Sprachgebrauches abhängig vom kulturellen und politischen Kontext – dies ist gemeint mit der Frage: „Welche Rollen und Aufgaben wurden der Sprache zugeschrieben?“ Während Sprache „an sich“ anhand von grammatikalischen Regeln erklärt und analysiert werden kann, ist die Verschiedenartigkeit des Sprachgebrauches innerhalb verschiedener Lebensbereiche oder sozialer Gruppen nicht durch die Linguistik alleine zu erklären. Das Zuschreiben einer Sprachbedeutung ist vielmehr im Bereich der familiären, kulturellen und politischen Identität angesiedelt. Sprachgebrauch ist keine neutrale,

„objektive Gegebenheit“, sondern erklärt sich aus dem Kontext. Es soll deshalb hier keine Sprachanalyse vorgenommen, sondern die Instrumentalisierung des

7 John E. Joseph: Language and Identity. National, Ethnic, Religious. London 2004.

8 Hans Schulz Hansen: Danskheden i Sydslesvig, 1840 – 1918. Flensburg 1990.

Sprachgebrauches thematisiert werden. Dies hat für die vorliegende Untersuchung die Konsequenz, dass auf linguistische Theorien verzichtet wurde.

Zweitens soll hervorgehoben werden, dass Sprache innerhalb der nationalen Ideologie eine hervortretende Rolle spielt – darauf bezieht sich der Abschnitt „Bei der Konstruktion einer nationalen Identität.“ In den Werken z.B. eines Johann Gottfried Herders wurde die Nation eng an die Sprache gekoppelt. Dies ist natürlich erklärbar aus den historischen Umständen eines bis 1871 nicht vorhandenen deutschen Staates und einer langen deutschsprachigen Kulturtradition in Wort und Schrift. Die herderschen Gedanken flossen in eine allgemeine Nationaltheorie ein;

eine bewusste Sprachpolitik und das erklärte Ziel, eine gemeinschaftliche Nationalsprache zu erschaffen, gehörte bei den Bildungen von Nationalstaaten im 19.

und 20. Jahrhundert zum Standardprogramm. Die markantesten Beispiele sind jene Staaten, die ihre Nationalsprache erst einmal erschaffen mussten, wie Israel, das die hebräische Schriftsprache als Nationalsprache einführte, oder Indonesien, das sich sein Bahasa Indonesia aus der alten malaysischen Handelssprache erschuf.9 Doch auch in so genannten „alten“ Staaten wie den Niederlanden musste zunächst einmal eine Standardisierung stattfinden.10

Doch diese Hervorhebung der Sprache hat einen Haken, der mit dem dritten und letzten hier genannten Aspekt der Problemstellung verbunden ist: dem räumlichen Kontext. Besonders in Regionen, die zwischen zwei Entwicklungen standen, war die nationale Idee nicht einfach umzusetzen, denn der nationale Diskurs musste sich hier an die regionalen Gegebenheiten anpassen. Dies ist mit dem Abschnitt „In den Grenzräumen Schleswig und Ostfriesland“ gemeint: Der räumliche Aspekt gewinnt an Bedeutung.

9 Eric J. Hobsbawn: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. München 1996.

10 Das so genannte ”Algemeen Beschaafd Nederlands” war das Resultat. Ein Nebeneffekt war die Ausgrenzung des Friesischen, das damit gleichzeitig politisiert wurde – eine natürliche Reaktion auf die nationale Standardisierung.

Es geschah dabei eine gegenseitige Beeinflussung von Zentrum und Peripherie der Nation. Während die Nationalisierungsprozesse in Grenzräumen eine andere Form annahmen als in zentraler gelegenen Regionen, der Nationalstaat sich also den dortigen Erfordernissen „beugen musste“, war auch die Region selbst zum Entgegenkommen aufgerufen - sie musste erst einmal hineinwachsen in ihre neue Position als Randgebiet der Nation. Dies ist auch ein Kernpunkt meiner Untersuchung: Erst durch die Nationalstaatsbildung wurden die Grenzregionen zu Grenzregionen, ebenso wie nationale Minderheiten auch erst „erschaffen“ wurden, als die nationale Mehrheit definiert wurde.11

Die hier ausgeführten zentralen Punkte meiner Problemstellung ziehen eine Reihe von weiteren Implikationen mit sich. So lässt sich fragen, durch wen der Sprache eine bestimmte Bedeutung beigemessen wurde, oder anders formuliert: Wer instrumentalisierte die Sprache? Auch die allgemeine Landbevölkerung belegte Sprache mit Bedeutung. Weite Teile Ostfrieslands und Schleswigs waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch Agrargebiete, und erst eine konsequente Schulpolitik konnte den Analphabetismus erfolgreich einschränken. Diese Schulpolitik war jedoch bereits Teil der Nationalisierung. In diesem Sinne erscheint es wenig sinnvoll, sich auf die allgemeine Bevölkerung zu konzentrieren, zumal diese in den nationalen Diskussionen gerne als Argument benutzt wurde, wie noch zu zeigen sein wird.

Das Hauptaugenmerk liegt somit auf zwei Bereichen: der staatlichen Politik und ausgewählten wissenschaftlich-politischen Diskussionen des 19. Jahrhunderts. Hierin lautet die Kernfrage, welche Rolle in diesen Bereichen der Sprache beigemessen wurde. Eine Studie der staatlich geführten (Sprach-) Politik ist meiner Meinung nach nicht ausreichend, um diese Frage zu beleuchten. Diese Auffassung basiert auf der

11 Dies widerspricht meiner Auffassung nach nicht dem Faktum, dass kleinere Kulturgruppen auf eine lange Geschichte zurückblicken können. Hier könnte man auch anführen, dass die friesische Sprache zwar als Umgangs-, aber nicht als Schriftsprache weit vor dem 19. Jahrhundert existierte.

Schriftlichkeit wurde erst im Zuge der Nationalbewegungen wichtig.

Annahme, dass staatliche Politik immer in Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Realitäten entsteht, und beide Bereiche nicht unbedingt im Schema Ursache - Wirkung anzusiedeln sind. Diese Auffassung spiegelt sich auch im Aufbau der Untersuchung, der im folgenden Abschnitt näher erläutert wird, wider. Sowohl die Politik als auch die Diskurse haben sich natürlich im Laufe der Zeit geändert, weshalb trotz der thematischen Einteilung eine gewisse chronologische Struktur in den einzelnen Kapiteln beibehalten wurde.

Schleswig und Ostfriesland werden als Grenzräume bezeichnet. Dieser Ausdruck distanziert sich teilweise von der bisherigen Deutung der Gebiete innerhalb der Regional- und Landesgeschichte, worin sich die Untersuchung einfügt, von der sie sich aber auch abgrenzt. Der Unterschied zur Regionalgeschichte tritt durch die grundsätzlich theoretische und nicht primär empirische Herangehensweise und durch die vergleichende Methode hervor. Beides trägt bei zu einer Aufweichung des chronologischen Erzählstromes, der so viele regionalgeschichtliche Untersuchungen kennzeichnet.

Hier soll speziell angeknüpft werden an den Forschungszweig der so genannten Border Studies. Dass Grenzen mehr sind als das Ergebnis zwischenstaatlicher Verträge, mehr auch als Maschendraht und Kontrollübergänge, hat sich nicht zuletzt im deutsch-deutschen Kontext nach 1990 gezeigt, hier wird noch heute von der nicht überwundenen Mauer in den Köpfen gesprochen. Die interdisziplinären Border Studies bieten, wenn auch keine generelle und allgemeingültige Theorie der Grenzen – obwohl nach einer solchen manchmal gefragt wird -, so doch die Möglichkeit, Grenzen und Grenzregionen in ihren Funktionsweisen zu begreifen.12

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es nicht Ziel und Zweck dieser Arbeit ist, herauszufinden, „wie es eigentlich gewesen“ (von Ranke), sondern eine Darstellung der Deutung der Sprachverhältnisse in den behandelten Grenzregionen zu liefern.

12 Mehr dazu im 2. Kapitel.

Besonders im deutsch-dänischen Grenzgebiet gibt es eine lange Forschungstradition, die sich mit der Sprachgrenze beschäftigt und die bis in die 50er Jahre des 20.

Jahrhunderts hinein häufig mit einer nationalpolitischen Stellungnahme einherging.

Auf diese Tradition wird einerseits aufgebaut, von ihr wird aber auch Abstand genommen. Es wird also stattdessen der Versuch gemacht, zu zeigen, wie Sprache instrumentalisiert und mit Bedeutung beladen wurde in dem Prozess der nationalen Bewusstwerdung des 19. Jahrhunderts.