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Teil 2: Staatliche National- und Grenzpolitik

2. Formation von Staat und Gesellschaft, 1800 bis 1850

2.2. Dänemark zwischen Gesamt- und Nationalstaat

Zur Herausbildung einer nationalen Identität seien zwei Komponenten unverzichtbar, so bemerkt Eric Hobsbawm: Das Erinnern und das Vergessen. Auch im Falle der dänischen Geschichte und Geschichtsschreibung lassen sich beide Aspekte identifizieren. Das Erinnern bezieht sich hier besonders auf einige historische Mythen, die das Bild der Nation im Laufe des 19. Jahrhunderts geformt haben. Durch gezielte Propaganda in u. a. Kirche und Schule wurde somit ein Bild von einer zusammenhängenden Schicksalsgemeinschaft geschaffen, die bis in die mythologische Zeit zurückreichte.9

Vergessen wurde, dass der dänische Gesamtstaat bis 1864 eine multikulturelle Staatsformation war, dessen Selbstverständnis nicht national, sondern dynastisch ausgerichtet war. Die Rückschreibung der Nation in die Vergangenheit hat u.a. dazu geführt, dass der Gesamtstaat später als ein Konzept gedeutet wurde, das praktisch zum Scheitern verurteilt war.10

Doch was ist mit dem Begriff Gesamtstaat eigentlich gemeint und was zeichnete ihn aus? Der schwedische Historiker Harald Gustafsson veröffentlichte im Jahre 1998

9 Inge Adriansen: Nationale symboler i Det Danske Rige 1830 -2000. Bind I og II, København 2003.

10 Hierauf weist hin: Steen Bo Frandsen: Det nya Norden efter Napoleon. Den dansk-tyske helstat 1814-1864. I: Max Engman, Åke Sandstrøm (Hrsg.): Det nya Norden efter Napoleon. 25de Nordiska Historikermøtet, Stockholm 2004, S. 19-54.

einen viel beachteten Artikel zum Thema des Conglomerate State in der europäischen Frühmoderne.11 Seine wohl interessanteste Bemerkung macht er nicht zu den spätmittelalterlich-frühmodernen Zusammenschlüssen wie der Kalmar-Union, sondern erweitert seine Ausführungen um die Anfänge des Nationalstaates und sagt, natürlich seien die Staaten des 18. Jahrhunderts zentralisierter und integrierter gewesen als ihre mittelalterlichen Vorgänger. Aber dies alleine charakterisiere beispielsweise den dänischen Gesamtstaat um 1800 nicht als Konglomeratstaat, es hebe ihn nicht ab vom nachfolgenden Nationalstaatsmodell, sondern:

„Most important are (…) not the social, economic, linguistic, ethnic or cultural variations within the states. Here are indeed many of these variations also in the national states of the 19th and 20th century (…). What makes the conglomerates as states is the fact that the different sectors had different administrative, judicial, and political positions”.12

Gustafsson schließt sich damit nicht dem Gedanken an, dass Nationalstaaten seien durch kulturelle Homogenität gekennzeichnet. Sein Blick richtet sich nicht auf das kulturelle Feld, sondern auf die Verwaltung, die juristische und politische Tradition, die es innerhalb der Teilgebiete gab. An anderer Stelle führt Gustafsson aus, die einzelnen Territorien eines solchen Konglomeratstaates könnten auch im Verhältnis zum Machtzentrum des Staates gesehen werden und damit in ihrem „degree of integration or ( …) demands for integration and resistance against such measures“

studiert werden.13

Im Falle Dänemarks um 1814 herum lässt sich Gustafssons Beschreibung gut wieder erkennen. Zum Gesamtstaat gehörte bis 1814 auch Norwegen. Auch hier gab es Bereiche innerhalb der Verwaltung, die von Norwegen selbst getragen wurden. Es

11 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Harald Gustafsson: The Conglomerate State: A Perspective on State Formation in Early Modern Europe. In: Scandinavian Journal of History, 1998, Vol. 23, S. 189-213.

12 Ebd., S. 197.

13 Ebd., S. 199.

kam vor, dass Steuern verweigert wurden und Kopenhagen drohte, die Gelder notfalls mit Militärgewalt einzutreiben.14 Auch nach der Abspaltung Norwegens behielten die restlichen Teile des Gesamtstaates ihre relative Autonomie. Die Herzogtümer Schleswig und Holstein hatten seit langem eine unüberschaubare Vielzahl von Gesetzgebungen, die nebeneinander existierten. So hatten einige Städte weitgehende Stadtrechte, die Landschaft Eiderstedt beispielsweise regierte sich selbst, und obwohl der Danske Lov im Königreich herrschte, lebte südlich der Königsau der mittelalterliche Jydske Lov in einigen Gegenden weiter, teilweise bis zur Inkorporation Schleswig-Holsteins durch Preußen 1864.15 Vergleichbar mit den Provinzialregierungen in den niederländischen Provinzen, hatte auch die holsteinische Ritterschaft eine von alters her gewährte Unabhängigkeit in Gesetzgebung und Administration. Große Güter in den Herzogtümern hatten ihre eigenen juristischen Instanzen. Vom Zentralstaat war auch der dänische Gesamtstaat weit entfernt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Harald Gustafssons Hervorhebung der relativen Eigenständigkeit in Gesetzgebung und Verwaltung eines Konglomeratstaates im dänischen Gesamtstaat gut wiedererkannt werden kann. Von einem modernen Nationalstaat kann erst nach der Abspaltung der Herzogtümer 1864 gesprochen werden.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts herum wurde sowohl im dänischen Gesamtstaat als auch im niederländischen Königreich die traditionelle Verteilung von Macht und Territorium von mehreren Seiten aus hinterfragt, dingfest gemacht an der so genannten Verfassungsfrage, die um das Jahr 1848 herum politische Brisanz bekam.

14 Die Konflikte beschreibt Ole Feldbæk: Danmark-Norge 1380-1814, Band IV: Nærhed og adskillelse.

1720-1814. Kopenhagen 1998.

15 Für eine Übersicht der Verwaltungsgrenzen in der Zeit des Gesamtstaates: Ulrich Lange (Hrsg.):

Geschichte Schleswig-Holsteins. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 2. Auflage, Neumünster 2003, S. 430. Eine Geschichte der Verwaltungsstrukturen hat vorgelegt: Gerret Liebing Schlaber:

Hertugdømmet Slesvigs forvaltning. Administrative strukturer og retspleje mellem Ejderen og Kongeåen ca. 1460-1864. Flensburg 2007.

3. 1848-50: Frühliberalismus und Verfassungsfrage

1848 war in vielen europäischen Staaten das Jahr der nationalliberalen Erhebungen.

Diese Revolutionen und frühdemokratischen Experimente waren ein Beispiel dafür, wie lange politische und gesellschaftliche Ideen und Ideale brauchen können, bis sie sich in einer breiten Bewegung niederschlagen. Indirekter Auslöser von 1848 waren die Revolutionen in Frankreich 1789, vielleicht mehr noch die amerikanische Revolution von 1776. Hier schien sich jenseits des Atlantiks ein neuer, moderner Staat zu formieren, der mit europäischen Traditionen wie der Leibeigenschaft und dem Standesdenken brach. Eine Hoffnung für viele, die ein Ende der aristokratischen Machtverteilung wünschten.

Auf allen Ebenen der westeuropäischen Gesellschaft vollzog sich seit dem späten 18.

Jahrhundert ein Wandel: Schrittweise wurde das alte Standesdenken abgelöst von einer neuen Vorstellung des Bürgers und seinem Verhältnis zum Staat. Sowohl in Dänemark als auch in den Niederlanden war die Verfassungsfrage Ausdruck dieses Wandels im Denken. Von einem Aufstand der Massen konnte dabei jedoch noch lange keine Rede sein. Die aufständischen Liberalen grenzten sich ab von dem, was sie als „Pöbel“ bezeichneten, das allgemeine Volk war in ihren Forderungen nach einer modernen Verfassung nicht enthalten. So wünschten auch die Schleswig-Holsteiner erst einmal keine Abspaltung vom dänischen Königreich oder eine Absetzung der Monarchie zugunsten einer Demokratie. Wieder und wieder wurde hervorgehoben, dass man den Monarchen für „unfrei“ halte, deshalb handele man eigenmächtig, aber keineswegs gegen den eigentlichen Willen des Monarchen. Auch in den Niederlanden wurde 1848 die Verfassungsfrage aktuell. Hier ging Willem II scheinbar auf die Forderungen der Liberalen ein.

Liberale Politiker wie Johan Thorbecke in den Niederlanden oder Orla Lehmann in Dänemark waren erst eine Randerscheinung, ab Mitte des Jahrhunderts bekamen sie politische Verantwortung übertragen. In beiden Staaten wurde so eine eigentliche

Revolution vermieden. Man nahm den liberalen Bewegungen den Wind aus den Segeln und machte sich ihr Potential zunutze. Ganz anders die deutschen Liberalen, denen zwar eine frühdemokratische Paulskirche 1848-51 gelang, die aber nach diesem Experiment gezwungen wurden, sich der „Reaktion“ anzupassen oder auszuwandern.

Im folgenden Abschnitt werden die Geschehnisse geschildert, die mit dem Ruf nach einer neuen Verfassung zusammenhingen. Sowohl in Dänemark als auch in den Niederlanden zeichnete sich mit dem Jahr 1848 eine Wende ab. Verglichen mit den deutschen Staaten, die von 1848 bis 1851 die frühdemokratische Paulskirche sahen, liefen die Veränderungen ruhiger, aber dafür umso nachhaltiger ab.