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Teil 2: Staatliche National- und Grenzpolitik

2. Formation von Staat und Gesellschaft, 1800 bis 1850

3.2. Die Verfassungsfrage und die Regierung Thorbecke

Die Verfassungsfrage wurde in den Niederlanden - ebenso wie im dänischen Gesamtstaat - durch eine sich formierende liberale Kraft im Lande forciert. Die Forderung nach einem erweiterten Wahlrecht und nach einer modernen Verfassung wurde jedoch weit stärker als in Dänemark mit der sozialen Frage verbunden. So beschäftigten sich Zeitschriften wie De Gids ab den frühen 40er Jahren mit dem Pauperismus, der besonders in den niederländischen Städten zu finden war.25 Während große Teile der Bevölkerung verarmten, sammelte eine kleine Oberschicht immer mehr Kapital an. Diese weit verbreitete Armut machte es „unmöglich, weiterzugehen auf dem eingeschlagenen Weg (…) der Verbreitung von politischer Demokratie durch Ausbau des Wahlrechtes“.26 Diese Verbindung zwischen sozialen und politischen Themen war eine speziell niederländische Entwicklung.

Eine andere Besonderheit war die bis in die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein schwach ausgeprägte öffentliche Diskussionskultur und ein in sich geschlossenes politisches System rund um den Monarchen. Willem I und auch sein Sohn Wilhelm II führten eine Art „geheime“ Politik, in der Beschlüsse nicht veröffentlicht wurden und sich somit jeder Diskussion entzogen. Doch das kaum Vorhandensein einer öffentlichen Meinung lag laut dem niederländischen Historiker Piet de Rooy nicht

25 De Rooy 2002, S. 31 ff.

26 Ebd., S. 34. Übersetzungen die Verfasserin, wenn nicht anders angegeben.

allein am König und seiner Regierung. Er bemerkt: „In Frankreich beispielsweise wurde die öffentliche Meinung in liberalen Zirkeln gesehen als eine der wichtigsten Bastionen gegen staatlichen (…) Machtmissbrauch. In den Niederlanden schienen kaum Meinungen zu existieren (…).“27 Und wenn doch Personen mit politischen Meinungen existierten, so De Rooy, dann wurden sie auch von den Liberalen schnell mit den belgischen Aufständischen assoziiert, mit Revoluzzertum und Radikalität, was zum schnellen Verstummen führte.

Die gemäßigten Liberalen traf laut De Rooy eine Mitschuld an dem schwach ausgebildeten öffentlichen Interesse an politischer und gesellschaftlicher Veränderung. Umso überraschender mag es sein, dass das politische System der Niederlande um Mitte des 19. Jahrhunderts herum zur konstitutionellen Monarchie umgewandelt wurde.

Die Gründe dafür sind auf verschiedenen Ebenen zu finden: in der wirtschaftlichen und sozialen Situation der Jahre ab 1840, in der Organisation der Liberalen sowie in der Person des Monarchen. Diese drei Punkte sollen im Folgenden näher ausgeführt werden.

1845 bis 1849 werden in der niederländischen Geschichtsschreibung die „schwarzen Jahre“ genannt. In dieser Zeit folgte eine Missernte auf die andere, Kartoffeln und Roggen wurden von Schädlingen und Schimmel befallen. Dies führte zu Hunger in weiten Teilen der Niederlande.28 Infolge der Mangelernährung und einiger äußerst strenger Winter war die Bevölkerung geschwächt und anfällig für Krankheiten;

Cholera und Malaria breiteten sich aus. Diese Lebensumstände führten in diversen Orten zu regulären Aufständen, in denen Läden geplündert wurden.29 Die Regierung setzte das Militär ein, um die Hungernden zurückzuhalten. In dieser

27 Ebd., S. 37.

28 Ebd., S. 51.

29 Das niederländische Wort „Voedselrelletjes“, das de Rooy gebraucht (S. 51), mag dabei für diese Situation verniedlichend klingen.

sozial gespannten Lage wurde 1848 Karl Marx´ Kommunistisches Manifest veröffentlicht und man hörte von Aufständen in europäischen Großstädten wie Prag, Paris oder Berlin. Sowohl in der niederländischen Regierung als auch in oppositionell-liberalen Kreisen ging die Angst um, dass auch in den Niederlanden eine gewaltsame Auseinandersetzung bevorstand, hervorgerufen durch die sozialen Spannungen.

Vor diesem Hintergrund hatte sich seit dem frühen 40er Jahren in den holländischen Städten eine liberale Opposition gebildet, die von dem späteren Regierungsführer Johan Rudolph Thorbecke angeführt wurde. Der Jurist wurde in seiner Jugend stark durch die deutsche Romantik beeinflusst. In einer seiner bekanntesten Schriften,

„Unsere Beziehungen zu Deutschland“, setzt er sich für eine bessere Kenntnis des östlichen Nachbarn und gegen den aufkommenden nationalen Gegensatz ein.30 Seit den späten 30er Jahren wurde er eine der prominentesten Figuren der politischen Opposition. 1844 tat Thorbecke sich mit einem Essay zur Staatsbürgerschaft hervor, in der er eine Art Programm für eine neue Strukturierung von Gesellschaft und Politik entwickelte. Eine der Grundvoraussetzungen dafür, so Thorbecke, sei eine aufgeklärte bürgerliche Klasse, die sich bewusst als Staatsbürger der Niederlande identifiziere. Dies setze eine bessere Bildung besonders in der Mittelschicht voraus.

Auch das Zensus-, nicht das allgemeine Wahlrecht, sowie eine wichtigere Rolle für das zwar existierende, aber bisher wenig machtvolle Parlament, sei eine Vorbedingung einer erneuerten niederländischen Gesellschaft.

Johann Thorbecke war der richtige Mann am richtigen Ort. Seine Ideen fanden Anklang in bürgerlich-liberalen Kreisen, nicht zuletzt, weil er sich deutlich von Radikallösungen abgrenzte. Gleichzeitig wurde die innenpolitische Veränderung gefördert durch den oben genannten sozialen Druck sowie durch die Furcht, eine ähnlich explosive Lage herauszufordern wie in anderen Städten Europas. In dieser

30 J. R. Thorbecke: Onze betrekking tot Duitschland. In: Historische Schetsen, 1860, S. 19-20.

Situation saßen die Liberalen mit Willem II und seinem Kabinett in einem Boot – beide Gruppen hatten Angst vor einen Aufstand der „unteren Klassen“.

Der dritte, nicht unwesentlichste Aspekt, der zu der günstigen Lage für die Verfassungsfrage 1848 führte, war der Monarch selbst. Willem II „wählte die Flucht nach vorn“ und verhinderte so seine eventuelle eigene Absetzung.31 Er beauftragte Thorbecke mit der Aufgabe, einer Kommission vorzustehen, die das neue Grundgesetz ausarbeiten sollte. Dieser gelungene Schachzug, sich mit den Liberalen zu verbinden und diese damit gewissermaßen zu instrumentalisieren, mag meiner Auffassung nach als eine weitere, wichtige Parallele zwischen der niederländischen und der dänischen Entwicklung gelten.