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VERDENSKRIGEN 1914-18 i

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A N K E R K I R K E B Y

R U S S I S C H E S T A G E B U C H

E I N F Ü H R U N G V O N

O T T O F L A K E

i Q 2 4

E L E N A G O T I S C H A L K

\ E R L A G / B E R E I N

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A u t o r i s i e r t e Ü b e r s e t z u n g v o n

E R W I N M A G N U S I . — 5 - T a u s e n d

C o p y r i g h t b y E l e n a G o t t s c h a l k V e r l a g I Q 2 4

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Z U R E I N F Ü H R U N G

Noch 1917, als Lenin aus der Schweiz nach Hause fuhr, scheint es selbst in der russischen Partei keine zehn Leute gegeben zu haben, die an die Zukunft des Maximalis­

mus oder Bolschewismus glaubten.

Ein halbes Jahr später hatten die Extremisten gesiegt

— sie hatten ein zweites Stockwerk auf das erste der Kerenskirevolution setzen können. Warum? Weil ein aus dem Volk kommender Elan da war, sich noch zu steigern vermochte und anders als in Deutschland, dem Land der Anläufe, nicht sich selbst verzehrte.

Man braucht nicht Parteigänger des Bolschewismus zu sein, um dieses Lob auszusprechen; es handelt sich nur um die Feststellung, daß hier eine Erregung in Tat um­

schlug und ein Volk die Führer der Idee nicht im Stich ließ. Es ist bei uns Glaubenssatz, daß der Russe noch un­

politischer sei als der Deutsche; wahrscheinlich ein großer Irrtum, denn eine Rasse, die so sozial lebt und eine so starke soziale Atmosphäre um sich schafft (man gehe in Berlin nur in ein russisches Theater und danach in ein deutsches), eine solche Rasse ist auch politisch begabt und dazu berufen, nicht nur Objekt, sondern Träger zu sein.

Nichts hat mich wenigstens damals so verwirrt wie die Einstellung der Feindseligkeiten, die von Lenin befohlen wurde. Diese Geste kleidete sich in das humanitäre Ge­

— V —

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wand: Friedfertigkeit, Versöhnung, Waffenlosigkeit. Für jemand, der nicht bekannt war mit dem harten Machtwillen Lenins und seiner Gruppe — einem Machtwillen nicht für die eigene Person, wie man unbedingt anerkennen muß —, für diesen Jemand in der Ferne waren die Bolschewisten Leute, die zum letztenmal, widerstrebend, nur dem Zwang gehorchend, die Mittel der Gewalt anwandten, um die Aera der Gewaltlosigkeiten zu begründen.

Ich gestehe, daß ich die ersten Jahre der neuen Herr­

schaft unter diesem Gesichtspunkt betrachtete und mich von dem \\ iderspruch zwischen Idee und Verwirklichung stärker als von irgendeinem Erlebnis aufgewühlt fühlte.

Es könnte sein, daß noch manch andrer durch dieses Problem zum Denken bestimmt wurde und wie ich den Keim seines Weltbildes auf das russische Geschehen zu­

rückführt — dreht sich doch jedes Weltbild um nichts anderes als um die eine Grundfrage, in welchem Verhältnis Idee und Verwirklichung stehn.

Lenin gab darauf eine Antwort, trug von je eine Ant­

wort in sich, deren Einfachheit ebenso grandios wie un­

befriedigend ist. W as die Größe betrifft, kann man ihn ruhig Jen Peter den Großen des Sozialismus nennen. Im übrigen löst er in Europäern, die den Geist nicht mit seiner un­

beteiligten Gleichgültigkeit behandeln, dieselben Empfin­

dungen aus wie etwa Napoleon.

bür uns ist das reine Genie der Tat auch das bloße Genie der Tat. Menschen wie Lenin, die ein einziges, in Stahl gegossenes Ziel verfolgen, nur ungebrochen, nie auf­

gewühlt sind, kein Für und Wider zulassen, den verdienst­

vollsten Kämpfer in den eigenen Reihen ungehässig, aber ohne Zögern Opportunisten und schließlich Verräter

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»

nennen, des Aufschreis der Empörung nicht achtend, Taktiker von unerhörter Vereinfachung — ich muß dieses Wort wiederholen — zucken die Achsel über den, der an jenem Widerspruch leidet. Für sie ist die Welt, die Auf­

gabe, die Methode, der Geist ohne Komplikation.

Jedes Genie der Tat weckt unseren religiösen Wider­

spruch. Ich nenne religiös, wer sich weigert, so einfach zu sein, daß er für das Ziel unbedenklich die Mittel bejaht.

Ich will nicht philosophisch werden, muß aber sagen, daß das religiöse Erlebnis darin besteht, einen Widerspruch, jenen Widerspruch in der Welt zu entdecken. Auf das Gefühl dieses Widerspruchs geht alles zurück, was sich in uns gegen ein Werk wie das Lenins erhebt.

Wir sehn wohl, daß der große Tatmensch für seine Person eine vollkommene Lösung gibt, aber für uns ist es nicht die Lösung; das Problem besteht in alle Zukunft weiter. Wir wissen unsererseits, was die Lenins nicht be­

rühren wird, daß die Lösung, die der Tatwille aufzwingt, nur eine neue Phase heraufführt, nicht einen endgültigen Zustand.

Das ist der Vorbehalt, den wir im differenzierteren Westen machen. Es gibt nichts Berechtigteres, nichts Wahreres, nichts Notwendigeres als ihn. Ist der Vor­

behalt gemacht, dann muß man einen Schritt weitergehn und sich vor den Tatsachen beugen, die neu geschaffen worden sind. Der Erfolg ist ein tiefes Ding. Eine Welt ward zerstört, eine andere an ihre Stelle gesetzt. Das ent­

scheidet.

Eine Figur wie Lenin kann ganz als Verkörperung des Materialismus, des Rationalismus, der Unreligiosität betrachtet werden: daß sie siegt, aus einer Erscheinung

— V I I

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ohne Kredit Gesetzgeber höchsten Stils wird, das verbietet sogar dem religiösen Menschen der kleineren Art, sagen wir dem Pietisten, in ihr den Antichrist zu sehn.

Wer geschichtebildende Tatsachen schafft, untersteht einem Sinn, den er selber leugnen oder mißachten wird, ohne daß es nun darauf ankäme, was er selber meint. Wir alle schaffen eine andere Wirklichkeit, wenn wir die von uns gewollte zu schaffen meinen.

Das neue Rußland ist also eine Tatsache. Es genügt nicht zu sagen, es sei im Grunde nichts geschehen, als daß eine Klasse sich an die Stelle einer anderen gesetzt habe, eine Oligarchie an Stelle der anderen. Der starre Lenin ist zugleich von erstaunlicher Elastizität, er ist er­

barmungsloser Dogmatiker und zugleich Opportunist von erschreckendem Ausmaß — die beiden Haltungen wider­

sprechen sich in ihm nicht, er ist Opportunist mit dem Blick auf das unverrückbare Ziel.

Schon das reicht aus, um zu erkennen, daß der rote Zar seinem Wesen nach etwas ist, das mit dem weißen nicht verglichen werden kann, und in Konsequenz die neue Ge­

sellschaft nicht mit der alten.

Umgepflügter Boden sieht nicht grundsätzlich anders aus als vorher, und doch ist er umgepflügt. Wenn ich Leute, die aus Rußland kommen, erzählen höre, daß das Leben „eigentlich" genau so abläuft wie früher, werde ich an diejenigen erinnert, die im Krieg die Leere des modernen Schlachtfeldes als Sensation empfanden — es lag wie im Frieden da, aber es war nicht die Landschaft des Friedens.

Die Dinge bleiben ungefähr gleich, es ist der Geist der Dinge, der sich verändert. Der fremde Beobachter muß <

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(las Organ mitbringen, das die Veränderung einer Atmo­

sphäre fühlt. Und diese Fähigkeit empfiehlt sich mehr, als mit einem Ideengepäck anzukommen.

Die erste Phase der bolschewistischen Revolution ist vorbei, mit ihr die Flut der ersten Berichte und Bücher, die über sie verfaßt wurden. Wir empfinden auch auf Ab­

stand, daß das Land mitten in seiner zweiten Phase steht und daß uns sensible, im übrigen nicht mit Voraus­

setzungen beschwerte Reisende das Bild geben .können, das uns für den Augenblick interessiert: die Skizze.

Das ist der Grund, weswegen mir Kirkebys Berichte, die gewissermaßen novellistisch nach Themen geordnet sind, einen so lebendigen Eindruck hinterlassen haben.

Man lese das Kapitel ,,Russische Jugend", diese Schilde­

rung der Kinder, die in die Museen geführt werden, und man muß zugeben, daß die Impression aus dem Leben tiefer in das Wesen des Neuen führt als theoretische Abhand­

lungen es könnten.

Fragt man nun, worin dieses Wesen des Neuen be­

steht, so stößt man auf eine merkwürdige Antwort — man stößt auf etwas sehr Altes: Grundsätze, die von je schon zum russischen Naturell gehörten, treten nun frei hervor, nämlich die Wärme des gegenseitigen Unterrichts, die Be­

geisterungsfähigkeit der Menschen, ihre Liebe zu den Kindern, die Teilnahme der Frau an den neuen Dingen und nicht zuletzt eine Benutzung und Weiterführung der nationalen Tradition, die, wie man so sagt, zu denken gibt.

Kurz, es stellt sich die Idee einer sehr bewußten, aber auch wieder sehr ursprünglichen und naiven Pädagogik ein, eine Gemeinsamkeit des Gefühls aller für alle, die an die

Zukunft der russischen Nation glauben läßt.

— I X -

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Es gibt eben eine Demokratie des Herzens und der Herzlichkeit, die der politischen Demokratie erst den Sinn und den ewigen Bestand liefert.

Die Achtung, die man in Rußland dem Kind ohne Schlagwort und abstraktes Programm zubilligt, entspringt wohl der Jugend dieser Rasse selbst. Gibt es aber eine bessere Garantie dafür, daß das Leben bestanden und eine wirkliche Gesellschaft geschaffen wird, als Jugendlichkeit?

Wenn der Bolschewismus kein anderes Verdienst hätte als daß er, in der Absicht, die Proletarierkinder zu befreien, die Natürlichkeit der russischen Menschen ent­

bindet, so wäre dies etwas so Positives, daß ihm vieles ver­

ziehen werden müßte.

Mit anderen Worten: er würde damit beweisen, daß er mehr ist als eine von Fremdstämmigen aufgezwungene Aktivität, daß er einer spezifisch nationalen Idee den Weg geebnet hat.

Alle Nachrichten, die aus Rußland kommen, sind im Grunde pädagogische Nachrichten. Zunächst ist man ver­

sucht, diese Besonderheit den gegebenen Tatsachen zu­

zuschreiben, daß eben alles von unten an aufzubauen ist.

Mir hat Kirkeby zu der Einsicht verholfen, daß man hinter dem materiellen Anlaß die erlöste Seele suchen darf.

Wenn man mir sagt, ich schwäche meinen eigenen Vorbehalt gegenüber der Figur Lenins ab, so bin ich nicht dieser Meinung. Vorbehalt ist angesichts jeder einseitigen Tat notwendig, damit das Fühlen und Denken rund und voll und zentral bleibe. Aber im Vorbehalt liegt schon die Aussage, daß es neben einer mit Zwang errichteten Ge­

sellschaft etwas gibt, das im materiellen Programm nicht enthalten ist: die Natur des Volkes, sein Geist, seine Lebenskraft und seine Menschlichkeit.

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Dieser Faktor oder diese Faktoren treten neben die Tat der Führer, und schließlich formen sie sie um. Ich sagte es schon, hinter der kommunistischen Revolution be­

ginnt das Volk sichtbar zu werden, und deshalb kann man von einer neuen Gesellschaft reden. Ihr Wille ist das aktive Saldo der Sowjetrepublik.

Jeder fragt sich wohl bisweilen, was nach unserer Zeit komme, welches Ideal von ,,Tugend" im antiken Sinn der Tauglichkeit und zugleich der Tiefe die Richtung weisen

"werde.

Der Ritter, später der chevalereske Mann, danach der Mann von Geist oder von Bildung oder von Kultur, in England der Gentleman sind solche Formeln für Lebens­

tüchtigkeit, Überlegenheit, Rasse, und sind alle von gestern.

Für das Heute ist überhaupt kein Begriff geprägt worden, Beweis daß wir seit etwa hundert Jahren im Über­

gang stehn. Kaum daß die Demokratie etwa den Self­

mademan gefunden hat, wenig genug.

Aber da ist nun doch gleichfalls in der amerikanischen Seele noch etwas anderes als die Forderung der Geschäfts­

tüchtigkeit, nämlich eine erstaunliche Vereinfachung, ein Mut zur Banalität, eine „unfaustische" Proklamation der .siegenden Energie, ein Glaube an die Initiative und an die Willensfreiheit, die nicht zweifelt, daß es möglich ist, das Leben zu bestehen und ihm eine Fülle von Zufriedenheit und Genuß abzuringen.

Wie aber, wenn man in diesem neuen Rußland eine Parallelerscheinung, und zwar eine wärmere, zu diesem Ideal der neuen Welt sehen wollte? Dieselbe Initiative, die bereits von den Kindern und Frauen aufgegriffen wird, derselbe Glaube an gestaltbare Vernünftigkeit, dieselbe Vereinfachung ohne viel Reflexion, und dasselbe Ja als

X I

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Antwort auf che I rage, ob durch Vorsatz des Willens eine hygienische, freiere, fröhlichere Gesellschaft möglich sei.

So entspränge dem Sozialismus doch noch eine neue seelisch-physische Struktur, eine Gesamtintention? Und der Materialismus, bis heute so unreligiös, daß er anti­

religiös ist, brächte doch eine zureichende Lebensstimmung hervor, eine Philosophie oder einfacher Lehre, in der die Schwäche, Dumpfheit, Zerrissenheit der Kreatur nicht zu kurz kommt, nämlich den Entschluß begründet, der diesen ursprünglichen Zustand überwinden soll und die blinde Kraft in bewußte verwandelt?

Große Fragen und schon erste Antworten. Wo aber ist der deutsche Anteil an ihnen? Und mit einemmal be­

ginnt man zu ahnen, daß sich dort im europäischen Osten mehr als das Experiment eines Klassenwillens abspielen könnte, nämlich das Experiment eines Glückwillens.

Tch sage es mit aller Vorsicht; wer lebt, wird erleben.

\ orerst klingen von da drüben auch andere, zwar ver­

traute, aber nicht imponierende Töne herüber. Die Unter­

streichung des Proletischen, das Jakobinermäßige, die Selbst­

gerechtigkeit, die glaubt, mit dem Schlagwort sei der In­

halt schon gegeben, die demagogische Vernunftanbetung und ein unbedenklicher Amerikanismus der Reklame, des Einpaukens und aller Greuel des Direkten, der der Ent­

faltung der neuen Seele nicht genug Zeit läßt.

Wer lebt, wird erleben. Wir werden sehen, ob die äußeren Begleiterscheinungen Hülle um den wachsenden Keim sind.

O t t o F l a k e .

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Towaritscli.

Ich habe sechs Jahre versucht, die russische Revolution zu verstehen. Die letzten sechs Wochen habe ich in Rußland selbst verbracht, das heißt in einer andern Welt, auf einem andern Himmelskörper.

Einer der ersten Augenzeugen des Revolutionskampfes, die ich schon vor Jahren traf, war der Presseattache der Sowjetgesandtschaft in Berlin, der alles mitgemacht hatte, ein asketischer Mensch, aber eine feurige Persönlichkeit, einer der ersten Angehörigen der Intelligenz des Kommu­

nismus, die nach Europa gekommen waren. Ich machte seine Bekanntschaft im Herbst 1921, als ich Gorki besuchte.

— Nun, wie war es denn?

— Großartig.

— Aber die blutigen Straßenkämpfe . . . und der Hunger . . . und die Kälte?

— Ach, großartig.

Ja, aber Ihr persönlicher Eindruck von der Revo­

lution und ihren Ergebnissen?

— Großartig.

Sonst war nichts von ihm über den Gegenstand heraus­

zubekommen.

Als ich vor einigen Tagen über die russische Grenze zu- liickfuhr, traf ich im Zuge die Schwester eines berühmten IMaleis, die dem orthodoxen Flügel der Petrograder Bour-

K i r k e b y , Russisches Tagebuch. j

— 1 —

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geoisie angehörte. Sie fragte mich nach meinem Eindruck von Petrograd, und während der Zug über den Grenzbach rollte und sie befreit aufatmete, hatten wir folgendes Ge­

spräch :

— Ich war bei einer Parade vor dem Winterpalast, als der Kunstverein ein Protektorat über die rote Armee über­

nahm und für die Kulturarbeit im Heer zu sorgen versprach.

— Ach, schrecklich.

— Die Künstler überreichten den Soldaten zwei rote Seidenfahnen mit einer vergoldeten Lyra auf der Stange. . .

— Schrecklich.

— Und Sinowjew hielt eine große Rede, in der er be­

hauptete, das rote Heer müsse das Heer der Kultur sein.

— Schrecklich.

— Ich kann nicht einsehen, daß es schrecklich ist, wenn die Intelligenz sich der Erziehung der Soldaten widmet und Schriftsteller, Schauspieler und Gelehrte eine Rede von Sinowjew anhören. . . .

— Das alles ist schrecklich. . . .

Irgendwo zwischen diesem Großartig und diesem Schrecklich liegt die russische Revolution. Ich wollte er­

gründen, wo.

Als ich zwei Wochen in Moskau verbracht hatte, war ich eines Tages zu Besuch in einem der früheren aristo­

kratischen Häuser. Die Jugend hatte junge Künstler und französische Freunde zu einem Wurstessen versammelt.

Man fragte mich nach meinen Eindrücken. Und ich, der ich alles ganz anders gefunden, als ich erwartet hatte, ant­

wortete — müde, verwirrt, desorientiert, tief entmutigt:

— Ich gestehe offen, daß ich mir über nichts hier klar werden kann.

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— Machen Sie sich nichts daraus — antwortete einer der Herren, ein Jurist, vielleicht ein wenig maliciös —, uns ist es auch nicht anders ergangen, und jetzt, nach sechs Jahren, verstehen wir immer noch nichts davon.

Ich hatte gewähnt, ein von der Revolution gezeichnetes Moskau zu finden, aber auch hierin wurden alle meine Er­

wartungen getäuscht. Ob es nicht wie ausgestorben wirkte? Es lag strahlend im Sonnenschein da mit einem Leben auf den Straßen, daß man an Chicago denken mußte.

Ich fragte einen alten Moskowiter, welche Verände­

rungen im Straßenbild vorsichgegangen seien. Er antwortete:

Wenn man genauer zusieht, entdeckt man, daß die Spazier­

gänger verschwunden sind. Jetzt sieht man nur Leute auf der Straße, die einem bestimmten Ziele nachgehen. Lind wir tragen alle unser altes Zeug, weil wir nichts anderes haben. Das macht das Bild etwas alltäglicher, grauer.

Man hat am i. Januar eine Zählung vorgenommen.

Danach sollte die Bevölkerungszahl J 600 000 betragen, was genau der Einwohnerzahl vor dem Kriege entsprechen würde. Ich glaube nicht, daß das stimmt: Es sind mindestens eine halbe Million Menschen zuviel in Moskau.

Zimmer sind nicht aufzutreiben, in jeder Wohnung wohnen fremde Familien eng zusammengestaut, und die Kubik­

meterzahl Luft, die früher als notwendiges Mindestmaß für einen Menschen festgesetzt war, ist dieser Tage durch ein neues Regierungsdekret wiederum herabgesetzt worden.

Ich verkehrte in der Familie eines Schuldirektors, der von seiner Achtzimmerwohnung nur das Wohnzimmer be­

halten hatte, in dem nun Vater, Mutter und die sechzehn- 1*

- 3 —

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jährige Tochter lebten, aßen und schliefen; im Kabinett daneben logierte ein Chauffeur, der Anstalten machte, seine hochschwangere Frau und drei kleine Kinder „daheim"

einziehen zu lassen.

(Es muß bemerkt werden, daß dieses Beieinander wild­

fremder Menschen, das für westeuropäisches Gefühl un­

angenehm wirkt und namentlich in dem so individualistisch orientierten England undenkbar wäre, seinen Charme für die Russen hat, die ein Gesellschaftsvolk sind. Ihr Dasein

Avird im Plural gelebt. Ein Russe wird melancholisch, wenn er allein ist, er liebt es, Großes wie Kleines in Gesell­

schaft zu unternehmen. Daher gibt es keine Ausmärker oder verstreuten Höfe in Rußland. Die Bauern haben sich stets in den Dörfern auf einen Klumpen zusammengesetzt, und die neuen Geschlechter kleben ihre neuen Höfe an die Rückwand des väterlichen Hofes. In Moskau geschieht alles vielfältig: Trifft man einen Wagen mit Butter­

fässern, so kann man sicher sein, daß neun andere mit Butterfässern hinterher kommen. Die Straßenhändler bilden Regimenter, sie stehen dutzendweise zusammen und verkaufen alle Schnürsenkel oder alle Sonnenblumensamen.

Wenn der Russe Tee haben will, und das will er immer, so kommt er nicht mit der Teekanne, sondern stellt einen Samowar mitten auf den Tisch und ladet jeden zum Mit­

trinken ein. Ja, er mag sich nicht einmal allein waschen.

In den großen Badeanstalten verlangt er eine ..Nummer", worauf man ihm eine Dreizimmerwohnung überläßt: der erste Raum ist der Salon mit einem Brüsseler Teppich, schweren Portieren, Mekkaplüsch, zwei breiten Diwans, Rauchtisch . . . dann das Badezimmer mit Badewanne, Dusche und Marmorpritschen . . . endlich der römische Wärmeraum mit trockener Luft und Borten bis zur Decke

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für die ganze Familie. Früher war es allgemeiner Brauch, daß die Moskowiter ihre augenblickliche ,,Flamme" ins Bad einluden. Keiner nahm Anstoß daran, es war eine nationale Einrichtung, und mein Bademeister beklagte tief, daß die Regierung verboten, hatte, andere als die Frau mit­

zunehmen — er meinte, der Sinn für Reinlichkeit hätte ab­

genommen. In den Vorstädten hat man jedoch noch diese volkstümlichen Anstalten, in denen die Tradition konservativ in Ehren gehalten wird. Hier saßen in der Wartehalle Kontoristen mit ihren kleinen Freundinnen, die den Raum mit der jungfräulichen Zärtlichkeit und weichen Süße erfüllten, die die Russin lieblicher als alle anderen Frauen macht, mit dieser seltsamen blonden Leidenschaft, die wie ein ewiger Mai berauscht — trotz der Revolution.

Hier schließt die Paranthese um die Sociabilität der russi­

schen Rasse, die ein wichtiger Charakterzug zum Ver­

ständnis dafür ist, daß die sozialen Tendenzen der Revo­

lution in gewissen Punkten geringerem Widerstand be­

gegnet sind, als man erwarten konnte. Und die auch Schuld daran haben, daß die zusammengestauten Familien der Situation ihre angenehmen gesellschaftlichen Seiten abzu­

gewinnen suchen: Der Chauffeur besucht Schuldirektors, der Flieger trinkt Tee bei der Generalin usw.)

In einem Punkt hat der Sozialismus die Schlacht bis­

her entschieden verloren: gegenüber der Forderung des Kaufmanns nach Profit. Vor einem Jahre lagen die Ge­

schäfte in Moskau noch da mit verriegelten Türen und verkleisterten Fenstern. Und nur infolge des „neuen öko­

nomischen Systems" sind die Läden allmählich wieder zum Leben erweckt, strahlen ihre Fenster wieder von neuen Ausstellungen. Man glaubte, daß alle Läger geleert, alle

\\ aren verbraucht waren. In dem Augenblick aber, da

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nur der Rubel als Köder hingehalten wurde, lagen die Waren auch schon wieder auf den Tischen. Man kann alles be­

kommen. Namentlich die Lebensmittelgeschäfte strotzen von delikaten Arrangements, die in ihrer appetiterregenden Anmut ganz an Potin in Paris erinnern. Jeden Abend strahlen die Lichtreklamen auf dem Dache von Moskaus größtem Warenhaus; früher hieß es nach seinen Be­

gründern Mur & M e r r i l i e s , jetzt trägt es das Schild M o s t o r g , was „Moskauer städtische Handelsgesell­

schaft" bedeutet. Es ist wahr, die Leute gehen in altem Zeug, aber an den Straßenecken verkauft der Zeitungs­

händler die letzten Nummern von Modenschau, Revue Parisienne, Style und Smart. Die- Strahlen der Revolution werden durch alle Prismen gebrochen, auch durch die Mode: eines Tages engagierte die „Store Nordiske"*) in Moskau einen Telegraphisten, der soeben aus dem staat­

lichen Telegraphendienst verabschiedet war, „weil er sich zu elegant kleidete". Am nächsten Tage gab mir der Kultusminister eine schöne junge Dame von seinem Kom­

missariat mit, um mir einige Schulen zeigen zu lassen; wir verbrachten fünf Stunden in den allerhöchsten Ideen­

sphären, daß es uns nur so von Rousseau, Fröbel, Pesta­

lozzi um die Ohren stob. Als wir mit der Straßenbahn nach Hause fuhren, konnten wir endlich ein kleines Privat­

gespräch anknüpfen. Die erste Frage der jungen kultus­

ministeriellen Beamtin lautete: „Finden Sie nicht, daß die Damen hier ebenso elegant gekleidet sind wie in Wien und Paris?" Ich fand es nicht, und sie stieg ein wenig ge­

kränkt bei einer Modistin aus. Man hat zwar die radikalste Revolution seit der Sintflut gemacht, aber die weibliche

*) über die ganze Welt verbreitete dänische Telegraphengesellschaft.

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Seele zu revolutionieren, dürfte doch noch einige Jahr­

hunderte dauern.

Ich habe den Eindruck, daß der Wiederaufbau des Kleinhandels mit fieberhafter Eile vor sich geht. Überall wird gehämmert, gewaschen, geputzt, werden Schaufenster geschmückt und neue Schilder aufgesetzt. Die Preise sind trotz des ständigen Falls der Papierrubel nicht höher als in einer teuren westeuropäischen Stadt. Brot ist billig, ein Pud (16 kg) bestes Weizenmehl kostet in Moskau 5 Gold­

mark, Roggenmehl kaum 2 Goldmark und ist in der Provinz noch billiger; im Nordkaukasus kostet ein Pud Roggenmehl 20 Pfennig. Aber je größer der Luxus ist, desto teurer wird es: ein kleines Hotelzimmer 10 Goldmark, ein Herrenanzug 400 Goldmark, eine Apfelsine 2 Gold­

mark, und ein Platz in der ersten Reihe der großen Oper zum Benefiz eines beliebten Tenors 75 Goldmark.

Ein Mann, der vor wenigen Monaten aus Moskau zurückgekehrt war, hatte mir geraten, Schokolade und Parfüm mitzunehmen, weil sie nicht aufzutreiben wären.

Ich habe noch nie eine Stadt so voller Schokolade und Parfüm gesehen. Nicht genug, daß die Parfiimerien mit Coty, Pinaud und Atkinson angefüllt waren, an den Straßenecken standen alte Damen und junge Mädchen und verkauften echtes Comme toi und Rose d'Orsay tropfen­

weise für den Rockaufschlag — vielleicht die letzten Tropfen von einem früheren, aristokratischen Toilettentisch.

An der Ecke der Ivusnesti Most und Neglinni Proyezd war im Schaufenster eines Konditors ein so großes Osterei aus Schokolade ausgestellt, daß eine Riesenpuppe von der Größe eines sechsjährigen Kindes darin sitzen und Konfekt von einem gutgedeckten Marzipantisch essen konnte.

7 -

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— Aber die Revolution? fragt der ungeduldige Leser.

— Nun ja. Ich ging auf die Jagd nach ihr. In Moskau pflegt es ja immer recht heiß herzugehen. Als Napoleon 1812 die Stadt eroberte, brannte er drei Viertel der Häuser nieder. Damals hatten die Franzosen Dach und Kreuz vom höchsten Kirchturm des Kremls, dem Glockenturm Iwan Welikis, abgerissen, in dem Glauben, daß er mit Gold gedeckt sei, und die St. Basil - Kathe­

drale, die malerischste Kirche der Welt, als Pferdestall be­

nutzt. Ich ging mit einer englischen Ausgabe des Baedeker herum; auf jeder Seite stand von einer Kirche oder einem Kloster: plundred by the French, burned down by the French, blown up by the French in 1812. . . . Was mochte die grausame Revolution 105 Jahre später ver­

nichtet, verbrannt und geplündert haben?

. Ihre Spuren waren kaum zu entdecken. Einige neue Wohnhäuser waren niedergebrannt, ein paar alte Kästen vor Altersschwäche zusammengestürzt, nachdem das in­

wendige Holzwerk als Feuerung für die Öfen abgerissen war. In gewissen Straßen, wo der Kampf von Haus zu Haus getobt hatte, zeigten die Mauern noch um die Fenster­

öffnungen die gesprenkelten Narben der Gewehrkugeln, die wie Wanzenbisse darin saßen. Hier und da stand jetzt ein Maurer und verpinselte den Ausschlag mit einem Quast und etwas Mörtel.

\ on dem großen Zarenpalast auf dem Kreml hat man die kaiserlichen Doppeladler heruntergeholt. Das nackte Eisenstativ sitzt noch da und gleicht einer Heugabel mit Ouersprossen, auf denen die Raben des Kremls sich schreiend niedergelassen haben. Am Giebel der Oper hat man schon den Adler mit dem schönen, natür­

lichen \\ appen der Arbeiterrepublik, gekreuztem Hammer

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und Sense, vertauscht. Drinnen ist die vergoldete Krone über der Kaiserloge rot bandagiert, und die beiden Gar­

disten, die immer als standhafte Zinnsoldaten vor der Logentiir standen, sind wohl zu etwas Nützlicherem um­

geschmolzen.

Mitten in dem geschäftigen Leben der Stadt liegt leblos der doppelt abgesperrte Kreml: die mächtigen Plätze sind verödet, die malkastenbunten Labyrinthe der Klosterhöfe leer, die Kirchen verschlossen und mit dem roten Lack des Sowjets, Hammer und Sense, versiegelt. Die einzige Veränderung hier oben ist, daß das Kolossal - Monument Alexanders des Zweiten entfernt ist und der Sockel nackt unter seinem mächtigen Baldachin dasteht. Die Revolution hat noch keine Zeit gehabt, sich selbst Monumente zu setzen:

mitten auf dem Theaterplatz stolpert man über ein bißchen Granit, worauf zu lesen steht, dies sei der erste Stein des Denkmals für den Führer der Arbeiterklasse, Karl Marx, und vor dem kleinen Theater wohnte ich an Ostrowskis Hundertjahrstage der feierlichen Enthüllung einer Platte durch Lunatscharski bei, die nur erzählt, daß man an dieser Stelle dereinst eine Statue des großen Dramatikers ent­

hüllen wird.

— Aber die Revolution? fragt der stets blutdürstige Leser.

— Ja, die Revolution ist nicht so ohne weiteres sicht­

bar. Sie besteht nämlich nicht aus gestürzten Häusern, auf den Kopf gestellten Schlössern, Prozessionen oder aus Schießen mit den großen Kanonen vom Kreml. Die Revo­

lution ist ein Ton, der plötzlich in der Luft klingt, eine stille Melodie, die überall hereindringt, auch in die Seele, ja, auch in die Seele. Sie ist eine neue Farbe über dem Leben, eine bisher ungeahnte Beleuchtung des Daseins. Die

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Revolution ist fast ein Nichts. Ich gehe über den roten Platz und stelle mich vor das Hauptportal des Kremls, den berühmten Spasskiaya-Turm, um das Gemälde vom Heiland zu bewundern, das Alexis Michailowitsch 1647 a n der Mauer anbrachte, und das das Palladium des Kremls ist.

Alexis befahl, niemand dürfe mit dem Hute auf dem Kopfe durch das Portal gehen, und 300 Jahre lang sind Kaiser und Bettler barhaupt durch Spasskiaya geschritten.

Selbst Napoleon nahm den Dreispitz ab, und als der Turm während seines Rückzuges in Brand gesteckt wurde, machte das Feuer vor dem Heiligenbild Halt, ohne daß die Flamme in der heiligen Lampe erlosch, die drei Jahrhunderte Tag und Nacht davor gebrannt hatte. Jetzt ist die ewige Lampe für ewig erloschen, und alle, die durch das Tor eilen, behalten den Hut auf. Plötzlich schlägt die Turmuhr zwölf und beginnt ihr herrliches Glockenspiel. Dem Baedeker zufolge weiß ich, daß es „Gott erhalte den Zaren"

singt . . . aber was ist das, das ist ja eine andere Melodie . . . ich glaube die Töne zu kennen: der heilige Spass­

kiaya-Turm mit dem Heilandbild und der ewigen Lampe und dem Hut auf dem Kopfe spielt die „Internationale", feurig läutet das Erz das rote Lied durch die kalte, klare Luft. Das ist die Revolution. Fast nichts, und doch so gewaltig, daß man ins Knie sinkt.

Ich sitze im Grand Hotel in Stockholm, schreibe diese Zeilen und denke darüber nach, was die Revolution eigent­

lich ist. Mein Reisekamerad auf dem finnischen Boot, mit dem ich heute Mittag ankam, unterhielt sich lebhaft mit einem Ehepaar, das nach Kopenhagen wollte, und mir klingt noch sein Geschwätz in den Ohren: „Sind die Härrschaften

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in der Scala gewesen? Kennen die Härrschaften Alstrup?

Wünschen die Härrschaften Saucer" Und jedesmal, wenn ich klingele, kommt in mein Zimmer der in Dreß gekleidete Kellner, der einem Gesandten in Audienzgala gleicht, ver­

beugt sich und sagt — obwohl er keine Ahnung hat, wer ich bin: Herr Direktor haben geklingelt. . . Wollen Herr Direktor das Menu sehen. . . . Wollen Herr Direktor ab­

reisen. . . . Und ich muß daran denken, wie ich an einem der ersten Tage in Moskau einen Brief an Frau Lenin schicken wollte und nicht wußte, wie ich sie zu titulieren hätte. Da ging ich zur „Kommunistischen Internationalen"

und fragte um Rat.

Schreiben Sie: an Towaritsch Lenina! An Genossin Lenina! Und ich schrieb: Genossin.

Als ich abends nach Hause ging, schritt ein Stückchen vor mir ein junges Mädchen. Sie findet einen betrunkenen Mann im Schnee, stellt ihn auf die Beine, bürstet ihn ab und lotst ihn durch seine Haustür; ich erreiche sie erst, als sie ihm den letzten freundlichen Abschiedsklaps auf die Schulter gibt und ihn ermuntert:

— So, Towaritsch . . . so Towaritsch . . . Genosse! Das ist das Feldgeschrei der Revolution.

Im übrigen aber mag die Revolution ein Kapitel für sich beanspruchen.

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Moskauer Tagebuch.

\\ enn man von der russischen Revolution sprechen will, muß man mit den Leiden beginnen, die sie gebracht hat. Die Menschen, die ihr Vaterland in der unglück­

lichsten Zeit nicht im Stich ließen, sondern daheim blieben, um ihr Tagewerk zu besorgen, damit das Getriebe nicht zum Stillstand käme, sind in meinen Augen durch den Schmerz geheiligt. Die Umwälzung selbst verursachte ja nur eine Schießerei, die wenige Tage dauerte. In den Städten, wo es am heißesten herging, fielen vielleicht ^oo Mann. Aber dann folgten die beiden Schreckensjahre, in denen Rußland gleichzeitig auf vierzehn Fronten angegriffen und von der ganzen Welt blockiert wurde, zwei entsetzliche Jahre, in denen jeder Mann entweder an die Front oder ins Gefängnis ging, und alles Lebendige hungerte und fror.

Tch sprach gestern abend mit einer jungen Schau­

spielerin vom Kaiserlichen Theater, die bei Ausbruch der Revolution mit einem hervorragenden Moskauer Arzt verheiratet war. Sie erzählte: Zwei Jahre lang be­

kamen wir kein Brot. Wir aßen Heu, Stroh, Schmutz.

Während dieser Zeit gab es keine Feuerung. Das Wasser gefior in Heizung und Wasserleitung. Wenn wir Wasser brauchten, mußten wir auf die Straße gehen, wo die Leitungen in der Erde geöffnet wurden. Wir saßen alle in der Küche um eine kleine Gasflamme, in alles Zeug gehüllt, das wir um uns aufstapeln konnten. Aber die Kälte drang

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durch alles hindurch. Zuletzt saßen wir mit einem Gefühl da, als wäre das Herz zu Eis gefroren. Mein Mann wurde krank, er mußte Eier, Milch, Weißbrot haben. Es war un­

möglich. Tag für Tag siechte er vor meinen Augen dahin.

Wie glücklich bin ich, daß ich keine Kinder habe. . . . Sie ist schön und talentiert, noch nicht dreißig Jahre alt. Jeden Abend strahlt sie auf der Bühne vor Schönheit und Koketterie. Aber sie ist mit dem Leben fertig. Zu Hause schließt sie sich mit ihren Büchern ein; sie liebt die melancholischsten Dichter, Hoffmann, Leopardi; jeden Feiertag wallfahrt sie nach dem Kloster vor der Stadt, wo ihr Mann begraben liegt. Auch ihr Herz ist in diesen Schreckenswintern zu einem Eisklumpen gefroren, und sie hat die Hoffnung aufgegeben, daß ein neuer Frühling es wieder zum Leben ruft.

Heute vormittag sprach ich über diese Zeit mit der Lehrerin, die jeden Tag Russisch mit mir lernt.

— Ich weiß nicht, was schlimmer ist, sagte sie, der Hunger oder die Kälte. Mann und Kinder wurden krank.

Ich selbst aß fast gar nichts. Wie kann eine Mutter essen, wenn ihre Kinder hungern? Wir hatten nichts in den Ofen zu stecken, wir verbrannten Bücher, Möbel, Hausrat, man riß ganze Häuser nieder und verbrannte sie, und wenn wir ein Stück Papier auf der Straße fanden, war es ein Ereignis.

Wenn die Rede jetzt zu Hause zufällig auf diese Jahre kommt, sagen wir: Laßt uns lieber schweigen, es ist zu ent­

setzlich, daran zu denken.

Aber Menschen haben wir doch nicht gegessen wie in Samara, wo es ganz gewöhnlich war. Man fing Erwachsene mit dem Lasso auf der Straße und erwürgte sie. Ich hatte eine Freundin dort, die mit dem Strick um den Hals ent­

setzt nach Hause gelaufen kam. Man lernte schnell, welche

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Stücke des menschlichen Körpers sich am besten zum Kochen oder Braten eigneten. Aber die Kinder ließ man in Frieden, Kinder schmecken schlecht.

— War die Revolution diese Leiden wert? fragte ich.

Sie schweigt einen Augenblick, dann sagt sie:

— ja, sie war notwendig. Wir sind wirklich echte Menschen geworden. Ernster. Wir wissen, wozu wir die Zeit verwenden sollen, sie hat Inhalt bekommen, während sie früher nur mit nichtigem Zeitvertreib ausgefüllt war.

Ich selbst zum Beispiel: Früher ging ich in meine Schule wie in eine Sklavenanstalt, jetzt eile ich jeden Morgen froh dorthin wie in mein zweites Heim.

Kein Mensch ist unbeschädigt den blutigen Klauen der Revolution entronnen. Alle haben eine heimliche Wunde, die meisten, die ich treffe, klagen über eine Krankheit und bitten mich, ihnen Pillen oder Pulver zu geben oder das Fieberthermometer zu leihen. Auf der Straße hat jeder fünfte Mensch einen wollenen Schal um den Kopf, Moskau sieht aus wie eine Stadt voller Zahnschmerzen.

Und was sind diese körperlichen Gebrechen gegen die Entbehrungen, die jedem an der Seele fressen? Ich habe noch keinen getroffen, der nicht im Chaos der Revolution einen Angehörigen verloren hätte: erschossen, geflohen, tot, ver­

schwunden.

— Mein Mann wurde am 19. Januar totgeschlagen.

— Mein Bruder wurde erschossen, er saß im Ge­

schäftsausschuß der Menscheviken.

— Mein Schwager lebt in der Verbannung in Sibirien.

— Mein Mann wohnt in Konstantinopel; er war weißer

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Offizier, ich bin jetzt mit einem Privatdozenten der Philo­

logie zusammengezogen, dessen Frau in Berlin lebt.

— Als ich heimkam, waren meine Schwestern ver­

schwunden, ich habe vergebens seitdem in den Blättern nach ihnen inseriert.

— Ich weiß nicht, wo mein Vater ist. Er war erst sechzig Jahre alt. Ich glaube daher, daß er noch lebt.

Meine Mutter glaubt es auch.

Das Ministerium des Äußern hat mir ein Zimmer in dem feinen Savoyhotel angewiesen, das ebenso viel kostet wie ein Zimmer im Berliner Hotel Adlon. Die Doppel­

fenster können nicht geöffnet werden, sie sind verkittet, um die Kälte abzuhalten. Das Bett ist voller Wanzen, die mich am Schlafen hindern, Ratten und Mäuse sägen im Holz, eine Mäusefamilie benutzt jede Nacht eine bestimmte Ecke meiner Fensterbank als W.C., und ich muß morgens ihre kleinen schwarzen Diamanten auf den Boden fegen.

Draußen im Gange springen die Kellner mit Feuerzangen umher, um fette Ratten, dick wie Ferkel, totzuschlagen.

Der eine Kellner ist ein Tartar, der andere ist dunkel­

häutig, ich fragte ihn heute morgen, ob er Jude wäre.

— Nein, das bin ich nicht, antwortete er, denn dann wäre ich totgeschlagen. Mein Vater war Ungar, meine Mutter Italienerin. Ich bin auch kein Kommunist, meine Politik heißt: Immer soviel wie möglich verdienen. Nein, sehen Sie, mein Herr, als ich mit meiner Frau von I urkistan nach Moskau reiste, wurde der Zug von Anti- Bolschewisten bei Akjubinsk, zwischen Akjumir und Oren­

burg, überfallen. Plötzlich hielten wir mitten in der Steppe.

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Wir sind von Reitern umringt. Ich höre den Befehl: Spannt das Gewehr. Es waren Kirkisen und Kosaken, die durch alle Wagen gingen und alle Juden niedermachten. Eine Jüdin kam schreiend in unser Abteil, ihrem Mann, einem deutschen Ingenieur, hatten sie die Stirn gespalten, nur weil er mit einer Jüdin verheiratet war, ihr zwölfjähriges kleines Mädchen schlugen sie auf den Kopf, daß es von dem Augen­

blick an stumm und taub war, ihren siebzigjährigen Vater hieben sie mit Säbeln in Stücke. Alle schwarzäugigen Männer wurden herausgeschleppt, man riß uns das Unter­

zeug auf, um zu sehen, ob wir Juden wären. 70 wurden erschossen. Die jungen Weiber wurden ins Dorf getrieben und kamen am nächsten Morgen im bloßen Hemd zurück.

Die Räuber hatten die Telegraphendrähte abgeschnitten und die nächste Station besetzt, sie hatten selbst Telegraphisten und Maschinisten mit, und fuhren auf unserer Maschine davon, als sich ein Panzerzug näherte. Mein Haar wurde in zwei J agen weiß. Ich hatte bis dahin nicht ein weißes Haar. Aber ich habe nichts verloren als einen Korb mit 35 Eiern; in einem der Eier waren übrigens für 80000 Millionen Rubel (8000 Goldmark) Brillanten. In der Ver­

wirrung waren sie zum Abteilfenster hinausgeworfen worden, und ich wagte nicht, den Zug zu verlassen, um sie aufzulesen.

Wochenlang habe ich nach einem Denkmal gesucht, das die Revolution sich errichtet hätte und das als ein Monument dieser Zeit die Jahre überdauern sollte. Ich ent­

deckte nichts. Endlich fand ich eine Reihe heiliger Gräber.

Die Revolutionsopfer der Straßenkämpfe hat man mitten in der Stadt auf dem roten Platz in einer langen Reihe ge-

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rade unter der gewaltigen Kreml-Mauer, im Herzen Ruß­

lands, in seiner heiligsten Erde begraben. Ein paar be­

rühmte Revolutionäre, die später der Anstrengung erlegen oder in einem Hinterhalt gefällt sind, schließen die Reihe.

Der letzte ist der amerikanische Journalist John Reed, der nur 33 Jahre alt wurde, aber wie eine Fackel in der Ge­

schichte der Presse leuchtet. Er entstammte der Bour­

geoisie, einer wohlhabenden Familie in Portland, und machte sein Examen an der aristokratischen Harward-Universität.

Er erwarb sich schnell einen Namen in literarischen Kreisen Amerikas. Seine modernen Gedichte, Dramen, Zeitungs­

artikel erregten Aufsehen. Aber immer mehr wurde er vom großen Leben ergriffen. Seine erste journalistische Tat war, daß er fünf Monate die mexikanische Revolution in Villas Gesellschaft mitmachte. Die Blätter schlugen sich um seine Artikel, zuletzt wurde er für 25 000 Dollar jährlich für „The World" verpflichtet. Aber als er sich nun mit seiner Feder in den Kampf für die Gerechtigkeit stürzte, Streiks mitmachte, Massenversammlungen abhielt und namentlich die Kam­

pagne gegen Rockefeiler in der „Standard Oil - Company"

organisierte, verzichtete er freiwillig auf sein Gehalt, um frei schreiben zu können. Dann wurde er vom Weltkrieg ein­

gefangen und machte das Schlimmste mit. Er wohnte der Schlacht an der Marne bei und wäre beinahe erschossen worden, weil er sich der Feuerlinie ohne Erlaubnis näherte.

Er folgte dem furchtbaren serbischen Rückzug und wurde selbst todkrank von den ausgestandenen Leiden. Wieder heimgekommen, unternahm er Propagandareisen gegen den Krieg, in denen er Grausamkeiten von beiden Fronten ent­

hüllte. 1915 kam er nach Rußland und verschwand nach seinem ersten antizaristischen Artikel monatelang spurlos in einem unterirdischen Gefängnis. Sein Dasein formt sich

K i r k e b y , R u s s i s c h e s T a g e b u c h . 2

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hausplatz in Kopenhagen und mit modernen fünf- und sechs­

stöckigen Häusern bebaut, die Tausende von Läden, Kon­

toren, Wohnungen enthalten, wird dem Erdboden gleich­

gemacht werden, um diesen Komplex zur Erinnerung an die Oktoberrevolution zu tragen. Er wird höher als der Triumphbogen und soll u. a. einen Festsaal mit Raum für 8000 Zuhörer und einer Tribüne für 300 Per­

sonen, außerdem drei große Säle für 2500, 1000 und 500 Personen und zahlreiche kleinere Säle, Kontore, Biblio­

theken, Archive, Theater, Kinos, Telegraphen, Telephone und eine drahtlose Antenne auf dem Dache erhalten.

Es waren etwa fünfzig Projekte aus allen Gegenden Rußlands eingelaufen, die im Gebäude der Architektur­

gesellschaft ausgestellt waren.

Unter den Projekten waren sowohl klassisch-griechische, wie babylonische und altrussische Arbeiterpaläste. Am inter­

essantesten waren natürlich solche, die sich durch moderne Materialien, Stahl, Zement und dickes Glas, einen Stil mit ungeahnten neuen Formen und Linien schufen. Viele der Komplexe hatten Ähnlichkeit mit Riesentanks oder Dread­

noughts, eines glich einer Zusammenstellung von Maschinen­

teilen, Rädern, Kränen, ein anderes brachte eine walfisch­

artige Kuppel zwischen zwei wie Korkenzieher gewundenen Wolkenkratzertürmen an, ein drittes erhebt sich wie eine Art Fruchtschale von riesigen Dimensionen, die einen Landungsplatz für Flugzeuge darstellt. Ich glaube, daß einer dieser Paläste errichtet werden wird: Denn wenn der Kultusminister auch kein Geld hat, um dem Personal des kleinen Kaiserlichen Schauspielhauses (insgesamt 500 Per­

sonen) seine Gagen während der Sommerferien zu bezahlen, so besitzt Rußland doch Cyklopenkräfte, um Babeltürme in

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den Himmel zu bauen, — wenn es im Namen der Revolu­

tion geschieht.

Wenn man durch die Straßen wandert, wird man oft von Musik gefangen; irgendwo in der Stadt scheint immer ein Orchester auf dem Marsch zu sein, und sie lärmen so feurig, so festlich, daß man verlockt wird, ihnen zu folgen.

Ich beneide die roten Trommelschläger, die ein Leben in dauerndem Enthusiasmus verbringen. Schon ihr Anblick kann mit Begeisterung erfüllen, wie sie mitten in den Hörnerfanfaren mit blanken Augen marschieren und mit den Trommeln salutieren, die lange, in freudiger Ekstase geschlagene Risse haben. Dann wieder sind es Gewerk­

schaften, die mit roten Bannern zu einer Protestversamm­

lung oder einem Fest wandern. Sonntag rief mich ein Trauermarsch auf die Straße: da kam mir die breite Teatralni Proyezd herab ein Leichenzug entgegen. Wie ein gewaltiger schwarzer Strom glitt er vorwärts, langsam, aber unwiderstehlich, von einzig dastehender Hoheit geprägt.

Der begraben werden sollte, war an einem Magenleiden gestorben, aber er hatte 15 Jahre der kommunistischen Par­

tei angehört und wurde wie ein auf dem Feld der Ehre ge­

fallener Krieger begraben. Ich mußte an die früher üblichen Beerdigungen denken: Ein schlaffer Pfaffe latscht mit einem verräucherten Heiligenbild voraus, dann kommen zwei Pferde mit Trauerschabrakke, die den rumpelnden Wagen ziehen, auf dem der von einem Priestergewand be­

deckte bloße Sarg steht. Daneben ein paar bezahlte Be- erdigungsdiener. Hinterher die trauernde Familie in einer geschlossenen Droschke.

Hier war der Sarg auf einem großen, mit rotem Stoff geschmückten Lastautomobil angebracht und thronte hoch

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als ein tollender Ivata.fa.lk, von einer roten Fahne lind einer Flut weißer Blumen bedeckt. Zehn Parteigenossen um­

standen den Sarg, das Gesicht ihm zugewandt, und hielten die Ehrenwache, immer abwechselnd ein Zivilist und ein Soldat mit aufgepflanztem Bajonett. Ein anderes rotes Last­

auto folgte mit Kränzen wie ein sommerliches Meer auf Rädern.

Dicht dahinter wurde eine blutrote Samtfahne von einem Offizier getragen, während ein Matrose das Tuch hochhielt. Dann kam der Trauerzug, je sechzehn in einer Reihe, alle Arm in Arm, alle im selben langsamen Tritt, die Männer trotz des Schneewetters mit bloßen Häuptern, und die Augen wie gegen ein fernes Ziel erhoben, mitten in der ersten Reihe die Witwe, die von zwei starken Männern ge­

tragen zu werden schien. Voran und hinterher große Orchester, zuletzt eine Kompanie Soldaten der Roten Armee, an den Seiten berittene Kosaken, die hin und her galoppierten und mit ihren langen Lanzen die Ordnung aufrechterhielten. Eine seltsam sonnige Stimmung wölbte sich über diesem Trauerzug, der vorwärts wanderte, bar­

häuptige Männer im stiebenden Schnee, Frauen, viele schöne, junge Frauen, Soldaten, alle Arm in Arm, zu einer dichten Masse in Kameradschaft vereinigt. Alle Offiziere, die wir trafen, blieben stehen und machten Honneur vor der Flagge. Alte Frauen bekreuzten sich vor dem Toten. Ich schloß mich dem Zuge an. Wir waren drei Stunden unter­

wegs, ehe wir den Kirchhof erreichten, aber das Marschieren allein war hier eine dreistündige Feier voll ergreifender Hoheit.

Gestern fing mich ein munteres, jubelndes Orchester ein, das in Richtung des Kremls, in einer goldenen Wolke explodierender Messingtöne verschwand. Ich kenne nicht

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ihre neuen Melodien, aber es sind Melodien, die berauschen.

Ich glaube, man hat sie aus Feuer und Flammen aller Musik der Welt zusammengebraut; auf jeden Fall erkenne ich immer wieder Bruchstücke der Marseillaise, der Car­

magnole und der Internationalen: Es ist ein Rausch von Trompetenfanfaren, Trommelfeuer, Heerschreien. Die Soldaten marschierten nach dem roten Platz, wo eine Parade stattfinden sollte. Ich wunderte mich darüber, daß sie nicht ihren Einzug durch das nächste Tor hielten, sondern nach der anderen Seite der Kapelle der ibe­

rischen Madonna hinüberschwenkten und an der Kreml- Mauer entlang marschierten, die eine Wand des Platzes bildet. Aber plötzlich ein kurzes Kommando, die Säbel der Offiziere blitzen grüßend durch die Luft, Parademarsch mit Augen rechts, die Musik geht in den revolutionären Trauer­

marsch über, der Schluchzen, geballte Fäuste und zuletzt die Morgenröte einer verklärten Auferstehung ist. Man befindet sich vor den langen Reihen revolutionärer Gräber, und ehe man an die Arbeit geht, huldigt man den toten Kameraden. Es sind fünf Jahre, seit sie hier begraben wurden, aber man hat sie nicht vergessen. Die Zuschauer auf dem Platze durchfährt ein elektrischer Strom, alle er­

heben sich, entblößen die Häupter, kleine elfjährige Kadetten mit Pickelhauben machen Honneur. Majestätisch klingt der Trauermarsch über den roten Platz:

Ihr fielt im tödlichen Kampf

Für die Freiheit des Volkes, die Ehre des Volkes.

Ihr opfertet euer Leben und was ihr liebtet.

Ihr littet in schwarzen Kerkern, Ihr trugt Fesseln in der Verbannung.

Ihr trugt die Fesseln ohne Klage,

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Denn ihr dachtet an eure leidenden Brüder

Und glaubtet, daß das Recht stärker sei als das Schwert.

Die Zeit wird kommen, da das Leben, das ihr opfertet, Uns zum Siege verhelfen wird.

Die Zeit ist nahe, da die Tyrannen gestürzt werden Und das Volk sich erhebt, groß und frei.

Brüder, lebt wohl! Der Weg, den ihr wähltet, war edel.

Wir schwören über euern Gräbern, daß wir kämpfen Und den Völkern Freiheit und Glück schaffen wollen.

Dann marschiert das rote Heer mit den gesenkten Blutfahnen grüßend entlang an der Reihe der Revolutions­

opfer — Arbeiter und Künstler, Proletarier und Idealisten, Gemeine und Führer —, zu äußerst liegt John Reed.

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Russische Jugend.

Heute vormittag machte ich einen Spaziergang nach dem Kreml und guckte unterwegs in das historische Museum, das an den Roten Platz stößt. Aber ich vergaß die Schaukästen über den Besuchern. Alle fünf Minuten stellte sich eine neue Schar Knaben und Mädchen im Vestibule auf; es waren Klassen aus allen Schulen der Stadt, die hier eine Unterrichtsstunde in lebendiger Geschichte haben sollten. Und alle fünf Minuten stand eine neue liebens­

würdige Führerin bereit, um sie willkommen zu heißen, die Kleinsten bei der Hand zu nehmen und mit der ganzen Ge­

sellschaft ins Altertum zu marschieren. Die Vitrinen wurden aufgeschlossen, die seltensten Dinge herausgeholt und erklärt, die alten russischen Gräber öffneten sich, die Vorväter jagten aufs neue über die Steppe, und blendende Kirchenfenster ließen den Kreml leuchten — die ganze Geschichte Rußlands sah ich sich neu und lebendig in schimmernden Kinderaugen spiegeln.

Ich fragte einen Aufseher, wie diese Besuche organi­

siert wären. An gewissen Tagen war der Zutritt frei, an anderen bezahlte jedes Kind 3 Pfennige, die Schulen mußten sich nur vorher anmelden. Dasselbe galt für Fach­

vereinigungen. Die nächsten drei Wochen waren schon überzeichnet.

Ahnlich war es Sonntag in der Tretyakow-Galerie, wo alle die wunderbaren modernen Gemälde hängen: Werescht-

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schagin, Ryepin, Perow. . . . In diesen Salons, wo früher ein oder der andere Tourist mit einem roten Baedeker auf dem Parkett umherschlich, herrschte jetzt Gedränge. Ar- heiter, Soldaten, Schulkinder, alte Frauen versammelten sich in dicken Klumpen vor diesen ergreifenden Szenen aus Rußlands blutiger Geschichte, in der die Maler die ewige Revolution wahrer Kunst gepredigt haben. Überall stand ein begeisterter Kunstkritiker mit flatterndem Schlips oder eine kleine Lehrerin in hochgeschlossenem baum­

wollenem Kleide bereit, erklärte und zog die Scharen von .Saal zu Saal hinter sich her. Zuletzt war es, als bekämen die Wände Leben: Peter der Große und Leo Tolstoj traten aus ihren Rahmen und offenbarten ihr tiefstes Geheimnis diesen Kleinen, deren Horizont früher eine Hofmauer oder eine Fabrikwand gewesen war, die aber jetzt plötzlich mit geblendetem Blick in eine ganz neue, ungeahnte Welt von Schönheit und Farben, von Leben und Dichtung hinein­

starrten. Das Entscheidende ist nicht, daß man den Aus­

geschlossenen die Pforten geöffnet hat, sondern daß man sie liebevoll an der Hand nimmt und sein Wissen mit ihnen teilt. Vor Ryepins Gemälde von Iwan dem Schreck­

lichen, der seinen ermordeten Sohn in die blutigen Arme schließt, kam ich in eine Schar von Bauernsoldaten, denen das Bild von einem zwanzigjährigen blonden Mädchen mit blanken, blauen Augen und warmer Stimme erklärt wurde.

Ich fühlte ihren Drang zu helfen, ich spürte den Eifer der anderen, zu verstehen, es war ein Spiel von Menschenliebe, das eine Feuersäule in meiner Brust emporschießen ließ und mich tiefer ergriff als die ergreifendsten Kunstwerke der Galerie.

Immer wieder stellt man diesem Wunderbaren gegen­

über : Wie die Großen und Starken sich über die Schwachen

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und Kleinen beugen. So hatte ich neulich stundenlang eine umfassende Staatsinstitution durchwandert und ihre Biblio­

thek, das Museum, die Lesehalle, die Vortragssäle studiert.

. . . Es war gerade Schließzeit, und das Gebäude hatte sich allmählich geleert, als ich in einem Auditorium 12 bis 15 alte Frauen mit weißen Tüchern um den Kopf entdeckte, die um einen langen Tisch herumsaßen. Eimer und Besen standen in den Ecken und verrieten, daß es eine Versamm­

lung von Scheuerfrauen war. Ich ging näher und sah jetzt drei junge Damen, die sich bald über die eine, bald über die andere beugten, und wie die Alten versuchten, Pappstücke mit Buchstaben zu Wörtern zusammenzulegen oder, mit schiefem Kopf und die Zungenspitze vor An­

strengung in einen Mundwinkel geklemmt, nach Vor­

schrift in ein Heft zu schreiben. Es war ein Kindergarten für Waschfrauen.

— Ja, sagte der Direktor, der mich begleitete,, die Reinmachefrauen erhalten täglich, ehe sie zu scheuern be­

ginnen, eine Stunde Unterricht. Vor einem Jahr konnte keine von ihnen lesen oder schreiben. Jetzt können sie alle rschon buchstabieren.

Die Männer der russischen Revolution arbeiten nicht für sich, sondern für die Zukunft. Die Leute, die die Revo­

lution gemacht haben, siegten, weil sie ihr Leben einsetzten und es jeden Tag aufs neue einsetzen. Manche von ihnen gingen auf die Straßen, um zu zerschlagen, zu erschießen und selbst erschossen zu werden. Andere gingen in die Kommissariate, um sich langsam zu Tode zu arbeiten, um die neue Welt aufzubauen und selbst unter den An­

strengungen zusammenzubrechen.

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Alle großen Hotels, \ ereins- und Klubhäuser sind zu Regierungsbureaus umgebildet, in denen es von unzähligen Kontoristen, Stenographen, Ordonnanzen, Sekretären und Damen mit dampfenden Teebrettern wie von Bienen in einem Stock wimmelt. Jede zweite Tür wird von einer Schildwache mit aufgestecktem Bajonett bewacht, und man muß reichlich mit Papieren versehen sein, um durchzu­

kommen. Jeder Raum ist vollgestopft mit Schreibtischen»

überall fließt es über von Papieren, und mitten im Ge­

klapper der Schreibmaschinen und Gerassel der Rechen­

bretter (ein Russe kann nicht zwei und zwei zusammen­

legen, ohne mit seinem „Stschoti" zu lärmen, demselben Modell, das in Fröbelschen Kindergärten beim Unterricht im kleinen Einmaleins gebraucht wird), mitten in diesem Lärm sitzt das Personal, trinkt Tee, raucht Zigaretten und versucht, die neuen Ideen in Zirkularen und Dekreten zu formen. Die Revolution hat vom alten System einen entsetzlichen bureaukratismus geerbt. Wenn man nur von einem Kommissariat zum anderen soll, wird man mit Papieren versehen, die ein paar Unterschriften, zwei, drei Stempel und verschiedene Laufnummern tragen. Aber die Revolution hatte das Glück, daß die Führer jetzt selbst die Gefahr entdeckt haben und sie bekämpfen. Auf dem russi­

schen kommunistischen Kongreß stand Stalin auf und er­

zählte, daß er im Prom-Bureau in Petrograd (der Zentrale der Großindustrie) bisher mit 2000 Mann gearbeitet hätte.

„Jetzt habe ich alle bis auf etwa 170 verabschiedet, und mit denen arbeite ich besser als früher!"

Glückt es dann endlich, die Tür des Volkskommissars selbst zu erreichen, so steht sein Privatsekretär dort im Gespräch mit Audienzsuchenden, die vielleicht tagelang ge­

reist sind und wochenlang antichambriert haben und nun

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ganz einfach mit den Ellbogen weggepufft werden. Als H. G. Wells schon zu einer Zeit, da ausländische Gäste noch eine Seltenheit waren, auf spezielle Einladung von Kame- new und durch seinen Freund Gorki bei Lenin ein­

geführt, Rußland besuchte, verstrichen 18 Stunden, ehe er hereingelassen wurde, und als er 24 Stunden vergebens auf Lunatscharski gewartet hatte, reiste er wieder nach Eng­

land zurück.

Drinnen sitzt der Volkskommissar, von Telephonen, Telegrammen, Sekretären, Schreibmaschinendamen, Über­

setzern, Kurieren umgeben und bereitet neue Gesetze und Dekrete, neue politische Reden oder Zeitungsartikel vor, unterschreibt Leben und Tod. Hier arbeiten sich diese Männer ab bis spät in die Nacht; Tschitscherins Lampe im Ministerium des Äußern erlischt in der Regel nicht vor vier Uhr morgens. Wenn die Wanzen oder das Pfeifen der Mäuse mich nachts wachhält, kann ich durch meine Fenster das gefürchtete Gebäude der G.P.U., wo Djer- schinski, der Robespierre der Revolution, residiert, strahlend erleuchtet daliegen sehen, bis die Sonne die Illumination verlöscht. Diese Männer gebrauchen nicht die Revolution, die Revolution gebraucht sie. Sie hat sie in ihre starken Eisenfäuste genommen und preßt ihnen langsam die Seele aus. Lenin ist schon fertig, ein Sterbender, andere sind nur noch verbrauchte Nervenbündel. Sie gebieten über alle Herrlichkeiten der Welt, über Paläste, Belustigungen, Kunstschätze, aber sie werden sie nie genießen, sie schenken alles dem folgenden Geschlecht.

Soweit man sehen kann, steht die jetzige Sowjet­

herrschaft sicherer da als je. Innerhalb der Grenzen Ruß­

lands wird kein verantwortlicher Politiker sie vorläufig durch andere Methoden oder andere Männer zu ersetzen

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versuchen. Und die Emigranten haben ihre Rechte durch die Flucht verspielt. Die Entwicklung ihres Vaterlandes ist an ihnen vorbeigegangen, und wenn sie heimkehren, können sie sich einfach nicht mehr mit ihren Landsleuten verständigen, sie sprechen zwei verschiedene Sprachen.

Aber ewig wird die jetzige Herrschaft ja auch nicht währen. Wenn es auch noch lange dauert: einmal wird die Entwickelung andere Kräfte in den Sattel setzen.

1 rotzki hat gesagt: „An dem Tage, da wir genötigt werden, zu gehen, werden wir die Tür hinter uns mit einem Krach zuschlagen, der in der Weltgeschichte widertönen wird."

Aber eines ist sicher: Diese Männer werden die Welt anders hinterlassen, als sie sie vorfanden. Ihre Ideen werden bleiben. Ihre ganze Arbeit ist letzten Endes darauf aus- gegangen, die neuen Gedanken zu säen, und an dem Tage, da sie abtreten, wird das Feld grün dastehen.

Es ist die Aufklärungsarbeit, die im Rußland der Revolution den stärksten Respekt abzwingt. Vor 5 bis 6 Jahren standen die Kommunisten eines Tages plötzlich da und sollten 150 Millionen über zwei Weltteile verstreute Menschen erziehen, von denen gegen 90 Prozent noch im Mittelalter lebten und weder lesen noch schreiben konnten.

Wie sollten die sie hören? Wie sollten sie aufgerufen werden? Man wählte die Bildersprache. Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler schufen Plakate, die zu Mil­

lionen in die fernsten Gegenden Rußlands gefahren und in den Dörfern angeschlagen wurden und dort so gut wie nur irgendein Agitator redeten. Man mußte die Bauern lehren, den Boden nach modernen Methoden zu bebauen, mit den Städten zusammenzuarbeiten, in neue Kriege zu gehen, um die Rechte der Revolution zu verteidigen. So wurde eine lange Rede in ein kurzes Bild umgesetzt, die

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Statistik zu einem illustrierten Märchen belebt. Selbst die Züge, die nach der Krim, nach Archangelsk, durch Sibirien fuhren, wurden mit Figuren übermalt, deren Sprache jeder verstehen konnte. Der Anschauungsunterricht wurde auf geniale Weise in einem Umfang wie nie zuvor in den Dienst der Aufklärung gestellt, man entdeckte die Bedeutung des Bildes, die schon Napoleon erkannt hatte („Ich lerne mehr aus der kleinsten Skizze als aus dem längsten Bericht"), und diese Unterrichtsmethode: alles durch Linien und Farben statt durch Buchstaben und Zahlen zu erklären, teilte sich auch der Kindererziehung mit, bei der man nun dazu übergegangen ist, durch das Auge zu lehren.

Aber in aller Aufklärungsarbeit der Erwachsenen, in allem Unterricht der Kinder liegt ein kommunistischer Keim verborgen. Ab und zu müssen Lehrer und Lehre­

rinnen eine Art Examen bestehen, damit die Schuldirektion kontrollieren kann, ob sie im rechten Geist unterrichten.

Und in allen Schulen, Lehranstalten, Universitäten, Fabriken soll eine jungkommunistische Zelle eingerichtet sein, ein vorgeschobenes Fort für junge Parteigenossen, von dem sie Ausguck halten und Ausfälle machen können. Am Abend vor dem ersten Mai nahm ich in einer Moskauer Muster­

schule teil an einer revolutionären Abendunterhaltung mit internationaler Deklamation und Gesang, wobei die Schüler auftraten, während sich die Lehrer, die besonders ein­

geladen waren, in den Winkeln verbargen. Ein vierzehn­

jähriger Knabe leitete die Versammlung mit einer großen Glocke und schloß mit einem Hoch auf die Schulabteilung der Jugend - Internationale, die das Fest arrangiert hatte.

So systematisch gingen die jugendlichen Arrangeure zu

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