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Die russische Kirche

In document THE DET (Sider 105-125)

Mein guter Freund, ein ausländischer Korrespondent, mußte sich in Moskau mit einer Frühlingserkältung ins Bett legen, und ich brachte ihm täglich aus der deutschen Apo­

theke Hustentabletten, Pastillen und Wundertropfen, ohne daß es besser wurde. Da fiel mir die iberische Madonna ein.

Ihre kleine viereckige Kapelle, die in dieser Umgebung der Laube in einem dänischen Kleingarten gleicht, liegt am Ein­

gange zu dem Roten Platze gerade vor den Mauern des Kremls. In dem engen verräucherten Raum drängen sich von morgens bis abends Priester und Pilger, krummrückige Barfußbettler und junge geschminkte Sünderinnen, die schmalen Fesseln in^hohen Lackstiefelchen. Hier hängt auf der Rückwand zwischen ewigen Lampen und prangenden Stoffblumen das wundertätige Heiligenbild — die iberische Madonna. Vor dreihundert Jahren wurde das Bild auf dem heiligen Vorgebirge Athos unter Fasten und Psalmengesang gemalt, eine getreue Kopie der Madonna des iberischen Klosters (die aus dem 8. Jahrhundert stammen soll), und ist seitdem das Kleinod Moskaus gewesen. Jedesmal, wenn der Zar zum Kreml kam, kniete er erst in der kleinen Kapelle vor dem Tore, und wenn die Ärzte einen Kranken aufgegeben hatten, wurde nach dem geschwärzten Madonnen­

bild geschickt, dessen Haupt von einem Netz von Perlen um­

geben, dessen Diadem und Gewand mit strahlenden Juwelen übersät, und dessen rechte Wange mit einer Schramme vom

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Säbel eines heidnischen .Tartaren geziert ist. Eine ändere, weniger kostbare Kopie wurde an ihre Stelle gesetzt. Man brachte die erste Kopie in einer Karosse mit sechs Pferden an, die von sechs Dienern in Gala geführt und von zwei Priestern begleitet, zum Hause des Kranken gefahren wurde, während die Leute auf der Straße auf die Knie fielen und sich bekreuzten. Räucherwerk wurde abgebrannt, Weihwasser gesprengt, das Bild dreimal im Krankenzimmer herumgetragen, während der Arzt still die Hintertreppe hinunterschlich . . . Ob wohl die Revolution, die den Kampf gegen den Aberglauben aufgenommen hat, auch mit der iberischen Madonna fertig geworden war? Wenn nicht, so sollte sie wirklich den Schnupfen meines Kollegen kurieren dürfen. Ich machte mich auf den Weg zur Kapelle und erkundigte mich nach den Bedingungen. Ja, die Madonna war für nur 200 Millionen Rubel bereit, aber man hatte auch das Zeremoniell eingeschränkt; man konnte nur versprechen, daß sie in einer gewöhnlichen Droschke mit drei Pferden und ganz ohne Kammerdiener kommen würde. Ich hatte nur die Summe zu bezahlen (die damals 20 dänischen Kronen entsprach) und eine schriftliche Erlaubnis vom Hauskomitee des Kranken zu bringen. . . . Leider wurde mein Freund während der Vorbereitungen gesund, und als ich ihm einige Tage später von meinem Plan erzählte, machte er sich selbst Vorwürfe, daß er nicht eine Woche länger liegengeblieben war. Was tut man nicht, um den Besuch einer Madonna zu erhalten!

Gerade vor der Ibersichen Kapelle, am Giebel des Rat­

hauses, wo früher ein anderes Heiligenbild eingemauert war, hat die Sowjetregierung stattdessen Karl Marx' berühmte Worte ,,Die Religion ist Opium für das Volk" angebracht.

Aber mit einer Inschrift allein tötet man nicht jahrtausende­

alte Gewohnheit, noch weniger den tiefen Drang einer Nation. Ich habe mich vor die Kapelle gestellt und die Iswostschiks beobachtet, die über den Roten Platz fuhren.

Jeder fünfte bekreuzigte sich auf dem Bock, gänzlich un­

angefochten von Karl Marx. Und vor den beiden kleinen hinteren Kapellen, die das Nikolskiaya - Tor am Kreml flankieren und jetzt geschlossen und öde daliegen, habe ich Bauern wie früher auf den Treppenstufen vor den ver­

schlossenen Türen knien sehen. Es ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel, wenn man die bisher geheiligten Ur-instinkte eines Volkes angreift. Die Regierung ließ, wie be­

kannt, alle Särge der Heiligen öffnen unter dem Vorwand, verborgene Schätze zu finden, gewiß aber eher, um ihren leeren Schwindel zu offenbaren, und richtig fand man an Stelle wohlbewahrter, nach Rosen duftender, in golddurch­

wirkte und perlengestickte Stoffe gekleideter Märtyrer nur Staub und alte Fetzen, wenn es hoch kam, ein morsches Skelett. Aber der gemeine Mann kümmerte sich nicht darum. Die alte Babuschka, die bei einem Oberlehrer in Moskau diente, hat mir mehrmals versichert, daß die Heiligen eben ein neues Wunder getan hatten und in dem­

selben Augenblick, da der Deckel wieder geschlossen würde, wieder frisch und wundertätig wie zuvor in ihren Särgen lagen — sie hatten den Ungläubigen, die den Grabesfrieden der Heiligen zu stören wagten, nur einen Streich spielen wollen. Und -doch können selbst Windmühlenflügel nicht nur hinter den Mauern des Kremls zum Stillstand gebracht werden. Der Regierungsvertreter in Tscheljabinsk hat mir erzählt, wie die Bauern selbst in einer Gegend auf der anderen Seite des Urals, ein gutes Stück im Inneren Sibiriens, die Kirchen geschlossen hatten.

Um die Gewaltsamkeit und Brutalität der Aktion zu

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verstehen, die die Revolution in Rußland gegen die Kirche unternommen hat, muß man sich erinnern, daß unter dem russischen Himmel aller religiöser Glaube noch das ist, was wir in Westeuropa als mittelalterlichen Aberglauben be­

zeichnen. Er hat sich wie ein zerstörender Krebs so tief in die gesunden Lebensfunktionen des Volkes eingefressen, daß er jetzt (das behaupten die Extremen) nur mit glühendem Eisen ausgeätzt werden kann.

Die französische Revolution war nur ein Kampf gegen die Eingriffe der Kirche ins bürgerliche Leben, nicht gegen das religiöse Gefühl. Man begann damit, daß man die Ver­

nunft, das nackte, schöngebaute Weib, an die Stelle der Madonna setzte, und im Laufe von über hundert Jahren hat die Aktion gegen die Kirche vorläufig nur zu ihrer Trennung vom Staate geführt. Es wurde in Frankreich eine Re­

naissance für die Kirche selbst, ihre Formen wurden mit Erfolg modernen Forderungen angepaßt. Die Revolution in Rußland fing gleich damit an, Staat und Kirche zu trennen. Jm Laufe von vier Jahren konfiszierte die Re­

gierung 2>2 Millionen Morgen Klosterboden und yYi Millionen Goldrubel Kirchenkapital. Von 900 orthodoxen Klöstern sind 722 geschlossen und dadurch 58 000 Mönche, Nonnen und Laienbrüder obdachlos geworden. Dagegen sind 1 Millionen Arbeiter an ihrer Stelle in die ge­

schlossenen Klöster eingerückt. Auch in Rußland sollte die Trennung der Kirche vom Staat eine Reinigung und eine Erneuerung bedeuten; die jüngeren Priester haben ihre An­

passungsgabe an die neuen Tatsachen erwiesen. Sie haben verstanden, der Revolution gegenüber eine gewisse Mimicry zu zeigen, und jetzt auf eigene Hand Abstand von der ortho­

doxen alten Kirche genommen, indem sie den Patriarchen Fichon abgesetzt haben, der die Sowjetregierung nicht an­

erkennen wollte und fortfuhr, von seiner heiligen Tracht be­

schützt, Rat mit den Feinden der Revolution zu pflegen.

Führer der neuen „lebendigen Kirche" ist der Priester Vedenski, der mit dem Sowjet zusammenarbeitet. Dieser hat den Standpunkt seiner Reformkirche in folgendem Aus­

spruch formuliert: „Die Kirche Tichons war nicht die Kirche Christi, sondern die des Zaren. Die Macht des Rates dagegen versucht in Taten die Lehre Christi zu ver­

wirklichen und muß daher unterstützt werden." Vorläufig haben die modernen Priester auch in einer Kirchen­

sitzung das Rätesystem anerkannt und die Gemeinden auf­

gefordert, es zu stützen. Sie haben empfohlen, den Priestern das Recht zu geben, sich zu verheiraten, und haben be­

schlossen, die Klöster in moderne religiöse Arbeitsgemein­

schaften auf der Grundlage von Gleichberechtigung und Brüderlichkeit auszubilden. Endlich haben sie den gre­

gorianischen Kalender eingeführt.

Die Gemäßigten unter den Kommunisten sind zu­

frieden mit diesen Reformen. Sie sehen ein, daß die Kirche in Rußland jetzt nicht nur versucht, die dreizehn Tage ein­

zuholen, die der julianische Kalender hinter dem Papst Gregors zurückgeblieben ist, sondern daß sie jetzt aus dem Mittelalter in die Neuzeit schreitet. Aber dem linken Flügel der Kommunisten ist das nicht genug. Sie wollen sich auch in der Kirche nicht mit Reformen begnügen, auch hier wollen sie Revolution. Sie wollen nicht nur sogenannten Aberglauben, sondern jeden religiösen Glauben ausrotten, sie führen den Kampf nicht gegen die Kirche, sondern gegen die Religion selbst.

Und um zu verstehen, wie weit das Pendel der Ent­

wicklung in diesem Kampf jetzt ausschwingt, muß man sich erinnern, wie weit es früher zurückgeschwungen hat.

Im täglichen Leben lotet man nicht leicht die Tiefen einer \ olkspsyche, aber jedesmal, wenn das Gesetz zufällig­

niederschlägt, entblößen die Kriminalakten die Geheimnisse der Seele wie Blitze in der Nacht, die unerwartet den Charakter einer Landschaft verraten. Was ahnen wir im Licht des Alltags von den Abgründen unter dem Ober­

flächenleben der Russen? Laßt uns die Akten einer einzelnen Rechtssache wählen, um sie reden zu lassen: Ein Müller in Südrußland pflegte, wie es der Brauch war, jedes Jahr dem Wassergott Wodjanka ein lebendes Huhn, einen Hund oder ein anderes Haustier zu opfern, das er in einen Sack steckte, den er mit einem Stück roten Stoff zuband und im Mühl­

strom versenkte. Als aber ein halbes Jahr das Wasser spar­

sam floß, und er die Mühle nicht in Gang bekommen konnte, kaufte er für sechs Rubel das Kind einer armen Bauernfrau und ertränkte es, um Wodjanka zu erweichen. Da er sich später weigerte, die vereinbarten sechs Rubel zu bezahlen, übergab ihn die Mutter der Polizei. Aus den Verhören er­

gab sich, daß solche Kinderopfer weder in jener Gegend noch in Sibirien ungewöhnlich waren, wohin sowohl Mutter wie Müller geschickt wurden.

Wenn ich jetzt an den Aberglauben innerhalb der rus­

sischen Kirche denke, taucht beständig ein bestimmtes Bild in meiner Erinnerung auf: Eine blutjunge Nonne mit einem Gesicht, edel und bleich wie eine in Elfenbein geschnittene antike Gemme, die ich am Ostermorgen bei der Andacht in einer kleinen Kirche in Moskau sah. Zwischen hundert anderen stand sie in der Reihe, um alle die ausgestellten Heiligenschreine und Reliquien zu küssen, aber ihre zarte jungfräuliche Gestalt strahlte so viel weiblichen Liebreiz aus, es lag eine solche Anmut über ihren Bewegungen, daß ich unwillkürlich ihrem Bußgange folgen mußte. Die feinen

weißen Züge wie verklärt, mit Augen, die einen Widerschein eines himmlischen Lichtes zu besitzen schienen, ging sie von einem Altarbild zum anderen und küßte alle blutigen Wundmale an den Stellen, wo die einfältigen Küsse von Hunderttausenden im Laufe der Jahre die Ölfarbe ab­

geschliffen hatten. Ich dachte einen Augenblick an den römischen Arzt, der mir erzählt hatte, daß die seltene aero­

tische Syphilis in Moskau besonders verbreitet gewesen war und daß man erst kürzlich festgestellt hatte, die Ansteckung würde durch das Küssen der Heiligenbilder in den Kirchen übertragen. Als ich jetzt sah, wie das junge Weib die Küsse auf den von 36 Pfeilen durchbohrten heiligen Stephanus regnen ließ, stieg in mir eine zornige Eifersucht im Namen alles Lebendigen auf. Zwei Schritt von mir stand diese Offenbarung von Schönheit, Liebreiz und Jugend und drückte lange, innige Küsse auf ein in Ol gemaltes Idol, stand und opferte ihre überströmende weibliche Zärtlichkeit, ihren Drang zur Hingabe dem toten Holz, während eine Welt um sie herum nach Liebe schmachtete. Was würde sie nicht stattdessen an Güte Kranken und Schwachen, an Für­

sorge Alten und Kindern schenken können, gar nicht davon zu reden, wie sie einen Mann beglücken könnte, wenn sie ihn zu ihrem heiligen Stephan machen und mit dem Sigill ihrer jungfräulichen Liebkosungen segnen wollte.

Diese junge Nonne wurde mir Symbol, wie die russische Kirche Gedanken und Kraft des russischen Volkes stiehlt, um alles in ein Nichts umzusetzen. Welche Summe von Opfern, von Gebet und Buße, von Willen und Zärtlichkeit fordert doch die Kirche, und alles wird zu Küssen in die leere Luft. v

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„Besboschnik": Der Gottlose.

Osternacht. Eine Stunde vor Mitternacht beginnen alle Glocken in Moskaus vierzigmal vierzig Kirchen den Feiertag einzuläuten. Bataillone von Tönen bewegen sich in takt­

festem Marsch gegen den Himmel. Unter Hallen und Schallen ziehen sie ruhig und zielbewußt die Siegesallee der Milchstraße entlang. Mit majestätischem Dröhnen kracht das schwere Geschütz der Klänge durch die Ehrenpforte der Sterne . . . dann tritt für einen Augenblick Stille ein, in der du aus der Ferne den feinen melodischen Gesang einer geborstenen Silberglocke von einem Kloster jenseits des Flusses auffängst, während gerade über deinem Haupte ein verspätetes, dünnes Pling - Pling mit schnellem Läuten hinterhergelaufen kommt . . . plötzlich bricht das Metall­

unwetter aus allen Windrichtungen wieder los, himmlische Blechschmiede erfüllen die Werkstatt der Luft mit Eisen­

lärm und dem Hämmern auf Kupferplatten . . . in der Richtung des Kremls unterscheidet man eine florumwundene, heisere Metallstimme, die sich vorsichtig, aus Furcht vor Erkältung Watte um den Klöppel gewunden zu haben scheint . . . dann beginnt ein nervöses Stoßen und trommelt rastlos in einen Mörser, bis eine mächtige leere Blechkiste die Tonleiter mit entsetzlichem Spektakel hinunterrasselt. . . Aber durch das Trommelfeuer aus tausend Glocken­

schlünden sind wir in die Erlöserkirche, Moskaus mächtigen Dom. gelangt, über dessen Erbauung 44 Jahre vergingen.

ünd dessen Marmorgewölbe 15 Millionen gute alte Rubel gekostet hatten. Stille. Samtweiches Dunkel. Marmor­

kälte. Frieden. . . . Schon bei den äußersten Torflügeln beginnt das Gedränge. Stinkende Bettler. Duftende Busen.

Das Auge sucht einen Haltepunkt, aber der Blick in die blauschwarze Tiefe erregt Schwindel. Wir lassen uns gegen den Altar schieben und stehen mitten unter der größten Wölbung. Zu allen Seiten erheben sich die grauen Marmor­

mauern mit luftigen Galerien und Gängen, die, gefüllt von pulsierendem Leben, wie Vogelnester an den Klippen der Lofoten, an der steilen Wand hängen. Über dem Ganzen scheint die Kugel sich gegen den Nachthimmel selbst zu öffnen, und durch einen feinen Schleier von Dunkelheit und Nebeln ahnt man Gott Vater in byzantinischem Stil mit dem Jesuskinde auf dem Schöße. Das Gedränge wächst, man wird gepufft und geschoben. Alle Augen sind dem Altar zugekehrt, der, selbst eine weiße Marmorkirche mit Säulen aus Alabaster und Mauern aus Mosaik und Perl­

mutter, mitten in der Kirche steht. Eine Nonne kniet auf einer der Stufen neben einem leeren Sarge, der das leere Felsen­

grab von Jerusalem vorstellt, und plappert das Evangelium aus einer alten Pergamentbibel, die ungefähr ebenso groß ist wie sie selbst. Das Gedränge wird jetzt wahnsinnig. Hie und da entsteht eine Panik in dem Menschenmeer (ich tauschte hinterher Eindrücke mit verschiedenen Ausländern aus, wir hatten alle in unangenehmer Weise an das Ge­

dränge während des Krönungsfestes des Zaren denken müssen, bei dem 11 000 Menschen auf dem Festplatze tot­

gedrückt wurden), aber die Kirchenbesucher bewahren eine gewisse fatalistisch-gute Laune, und junge Paare, willenlos vom blinden Schicksal gelenkt, sinken ekstatisch einander in die Arme.

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Endlich. Jetzt schwingen die schweren Bronzetüren des Altars langsam, ein weinroter Seidenvorhang wird bei­

seite geschoben, und in den tiefen Schatten des Aller-heiligsten blinkt das Gold, strahlen die roten ewigen Lampen wie Rubine und blinken die schläfrigen Augen der Wachskerzen matt in dem bläulichen Schimmer des Räucher­

werks. Allmählich unterscheidet man den feierlichen Auf-zug malachitgrüner Mäntel, blutgesättigter Purpurschärpen, der Goldbrokatgewänder und der glitzernden Tiara des Metropoliten. Die Farben mischen sich in der Prozession, die sich quer durch die Kirche bewegt, alle Priester halten brennende Lichter in der Hand und verschwinden mit ihnen durch das Portal. In diesem Augenblick werden mit Ililfe von Zünddrähten alle Lichter unter den Wölbungen auf einmal angezündet, die Funken springen wie Feuerwerk zwischen den Kandelabern und Kronen. Im Gedränge hat jeder sein eigenes kleines Osterlicht vor sich gehalten und entzündet es nun an dem des Nebenmannes. Es ist, als liefen die Flammen durch den Raum. Draußen bewegt sich die Prozession um die Kirche, um den Leichnam des Er­

lösers mit Lichtern und Fackeln zu suchen. Wer es von der Gemeinde vermag, folgt nach, ein leuchtender Kranz schlängelt sich um den Fuß der Kathedrale. Drinnen flimmern die Zehntausende von Lichtern wie ein Feuer­

meer. Es ist immer noch ganz still. Die ganze Kirche lauscht mit zurückgehaltenem Atem. Man hört nur das brustkranke Husten der Bettler, das Weinen der Kinder, und die rauschenden Töne der Ewigkeit unter den Gewölben. Aber jetzt kommt der Metropolit dort unten wieder zum Vorschein. Mit hochgereckten Armen stürmt er zum Altar und ruft: ,,Er war nicht da! Er ist auf­

erstanden!" L'nd Purpur und Samt und Goldbrokat

stimmen ein: „Er war nicht da!" .Und der Chor (von Baedeker „weltberühmt" genannt) bricht nun endlich in den jubelnden Hosiannaruf aus: „Er ist auferstanden!". So seraphisch singen nur Kastraten und Engel, dies ist in Wahrheit die vox coelesta der menschlichen Orgel, die nun mit himmlischem Wohllaut alles übertönt.

Christus ist also wirklich auferstanden, der Zauber der Erwartung gebrochen. Die Stimmung schlägt in frohe Be­

freiung und über dicke Köchinnen hinweg, die ihren Oster-kuchen (Paschka) in feuchten Handtüchern mit in die Kirche gebracht haben, und ihn wie eine Monstranz den Priestern entgegenheben, um ihn segnen zu lassen. Junge Frauen haben grüne Frühlingszweige mitgebracht, die durch Ein­

tauchen in Weihwasser geheiligt werden. Alte wie Junge, die zu den Türen hinausströmen, suchen ihre Kerzen gegen den Nachtwind zu schützen, indem sie sie auf dem Boden einer Papierdüte befestigen — wenn das Licht ausgeblasen wird, muß man vor dem nächsten Ostern sterben, glückt es aber, die heilige Flamme unversehrt nach Hause zu bringen, so bedeutet es Glück für das ganze Jahr.

Allmählich entstehen muntere Wirbel in den Volks­

massen. Die Kirchgänger werden lebensgefährlich ge­

quetscht, trotzdem drängt man unter Gelächter und Scherzen den Ausgängen zu — hie und da liegt im Schatten der Säulen ein Ohnmächtiger, dem man Weihwasser ins Gesicht spritzt.

Drinnen hat man begonnen, die Heiligenbilder und Reliquien zu küssen. Die Frömmsten werfen sich zu Boden, um die schmutzigen Marmorfliesen mit ihren Lippen zu be­

feuchten, während die Engel in dem strahlenden Lichte das Tedeum singen. Draußen faßt die Jugend sich unterm Arm und zieht in Prozession um die Kirche, wobei sie

takt-K i r k e b y , R u s s i s c h e s T a g e b u c h . 7

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fest die Internationale anstimmt. Es ist die erste Stunde nach Mitternacht, die Rechtgläubigen wechseln mit ihren Nächsten den Osterkuß (Tolstoj läßt den Konflikt in „Auf­

erstehung" diesem Kuß entspringen), und junge Mädchen, die sich in das Dunkel des Inneren und das Gedränge hier draußen hineinbohren, werden unter Freudengeschrei von lebensdurstigen Studenten umarmt. Unterdessen beginnen die Osterglocken wieder zu läuten. Einige Festraketen steigen hinter dem Kreml auf.

Die Schar vor der Kathedrale erhält allmählich einen immer aufrührerischen Charakter. Man sammelt sich an einer der pompösen Marmortreppen, zu Füßen eines Bronze­

apostels erscheinen junge revolutionäre Redner, um ein paar kräftige Hohnworte gegen die Priesterschaft in die mur­

melnde Finsternis zu schleudern. Rede folgt auf Rede,

melnde Finsternis zu schleudern. Rede folgt auf Rede,

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