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Der Muscliik

In document THE DET (Sider 63-70)

Was sagt der Muschik?

Die Revolution ist von den Industriearbeitern der großen Städte geschaffen. Sie wird ständig von ihnen ge­

halten. Aber der russische Bauer wird ihre Zukunft ent­

scheiden.

Von den 150 Millionen Menschen Rußlands wohnen 130 Millionen auf dem Lande. Vor dem Weltkriege hatte der russische Bauer allein zur Ausfuhr einen Ernteüberschuß von gegen 10 Millionen Tonnen Korn, ein Viertel der jähr­

lichen Kornerzeugung und mehr als die gesamte Ausfuhr aus Kanada, den Vereinigten Staaten und Argentinien zu­

sammen.

Was sagt der Muschik?

Tag auf Tag, Nacht auf Nacht fährt der Zug über die Steppen. Die einzige Unterbrechung in der Einförmigkeit der Landschaft sind die Dörfer, die wie Maulwurfshügel am Horizont auftauchen, zu gleichartigen Reihen von Korn­

diemen wachsen — bis sie endlich die Form einer langen Straße mit grauen, sonnengebleichten Häusern annehmen, die aus Planken erbaut sind und fast verschwinden unter dem klobigen Riesenhut des schmutzigen Strohdaches. So sah Europa zur Zeit der Völkerwanderung, so sieht Ruß­

land heute aus.

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Am einen Ende des Dorfes erhebt sich die Kirche über den mit Erde beworfenen Hütten wie eine prachtvoll strahlende Theaterdekoration, die alle Kraft des Dorfes in sich gesammelt und alle Farbe und Schönheit der Land­

schaft aufgesogen zu haben scheint. Im Schlamm zwischen den Häuserreihen tummeln sich Schweine, Kinder und Kälber, auf den Feldern dahinter zieht der Muschik seine schwarze Furche mit dem krummen Holzstück, mit dem er dreihundert Jahre lang gepflügt hat.

Oben ist der russische Bauer ein verfilztes Büschel von fuchsrotem Haar und Bart, unten ist er ein Paar graue Stulpen mit Schilfpantoffeln (Lapti), während die Beine in lange Bänder schmutziger Bandagen (Portianki) gewickelt sind. So watete er im Mittelalter durch den fetten Morast der Felder, so watet er noch heute zum Bahnhof, wenn der Zug erwartet wird, um Neuigkeiten zu hören.

Auf einem Nebengleise hält gerade ein Zug mit Vieh­

wagen. — Jeder Wagen ist ein Bauernhaus auf Rädern.

Eine rostige Eisenröhre ragt zu einer Türspalte heraus und spuckt sauren Torfrauch; drinnen erblickt man undeutlich im Halbdunkel Kühe und Menschengestalten. Hier und dort ist der \\ agen mit einem Kranz aus Kiefernbüscheln, einem Tannenzweig oder der kolorierten Seite eines illu­

strierten Blattes geschmückt: ein Wagen hat sogar Glas in den Luken mit Gardinenspitzen aus ausgeschnittenem Zeitungspapier. Jetzt öffnet sich eine Schiebetür, eine kurze, selbstverfertigte Leiter wird auf den Boden gesetzt, und heraus wimmeln barfüßige Kinder in schmutzigen Hemden und verrichten ihre Notdurft frei zwischen den Schienen.

Es ist ein Zug voller Bauern, die in den ersten Jahren des Weltkrieges von ihrer Heimat in Polen und der Ukraine vertrieben sind und auf ihrer Flucht Hals über Kopf ganz bis nach Sibirien kamen. Sie haben in der Gegend von Tschaljabinsk gewohnt, und erst jetzt, zehn Jahre später, werden sie Dorf auf Dorf heimgeschickt, um vielleicht nur einen umgestürzten Schornstein vorzufinden. Man rechnet damit, 25 Tage unterwegs zu sein. . . .

Der russische Bauer hat eine noch längere Reise vor sich. Er ist vom Mittelalter aufgebrochen und befindet sich auf dem Wege durch die dreihundert Jahre. Er ist von seiner Finsternis aufgebrochen und soll nun zum Lichte. Er hat bis zur Revolution in einer Vorstellungswelt aus der Hexenzeit gelebt: Der Teufel spielte beständig eine große Rolle in den Dörfern. Die Heinzelmännchen wohnten auf dem Boden, und die Vampyre fraßen Leichen und saugten das Blut aus den Lebenden. Der englische Forscher Barnes Steveni, der mit Graf Leo Tolstoj und Graf Bobrinski das Land bereist und das Studium der russischen Folklore zu einer Spezialität gemacht hat, behauptet (noch im Jahre 1914), daß der Bauer in demselben phantastischen Milieu lebt wie die Handwerker in Shakespeares „Sommernachts­

traum", zwischen Waldschratten, Wassernymphen und bösen Geistern mit grünen, bis auf die Knie reichenden Haaren.

Eine Katze, ein Schwein, ein Teekessel können gut ein ver­

hexter Nachbar sein, und auf dem Besenstiel in der Ecke reiten die Gespenster zum Lysajaberg bei Kiew. Dieser Aberglaube ist nicht nur eine spannende Unterhaltung am Ofen, er greift praktisch in das tägliche Leben ein. Wenn sich ein junges Bauernmädchen nicht rechtzeitig verheiratet,

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muß es natürlich von einer Rivalin im Dorfe verhext sein, die ihre Verwandtschaft mit dem Teufel dadurch ver­

rät, daß sie auch einen Schwanz tragen soll. Wehe den unglücklichen \\ eibern, die in diesen Verdacht geraten, das Dorf labt sie nicht in Frieden, ehe man körperlich fest­

gestellt hat, daß sich unter ihren Röcken kein Schwanz ver-birgt. Ja, was hat der Teufel alles zu tun! Das Korn darf nicht nach Jahreszeit oder Witterung, sondern nach den Tagen gewisser Heiliger gesät werden, die der Almanach angibt, und nicht nach landwirtschaftlich erprobten Regeln, sondern unter Entfaltung bestimmter heiliger Zeremonien.

Welche Arbeit, 130 Millionen Menschen durch einen dunklen Tunnel von 300 Jahren bis zur Gegenwart zu führen, wo der Tractor rasselnd dahinsaust wie der Feuer­

wagen des Propheten Elias.

In seinen Bestrebungen, den Muschik zum modernen Agronomen zu machen, hat das Landwirtschaftskommissa­

riat Millionen von Schriften, Heften, Almanachs und Plakaten verschickt. Ein besonderer Verlag ist errichtet, um kleine Bücher über Melken, Unkraut, Maul- und Klauenseuche billig oder umsonst zu verbreiten. Die

Land-\\ irtschaftskonsulenten reisen herum und halten Vorträge.

Man hält Kurse ab, organisiert Ausstellungen. . . .

Augenblicklich hat man alle Kräfte eingesetzt, um am

!5- August, pünktlich um 12 Uhr, eine umfassende landwirt­

schaftliche Ausstellung in Moskau zu eröffnen. Alle Russen treffen sich hier in dem Wunsche, nach sechsjähriger Revo­

lution dem Auslande ein Gesamtbild des russischen Reiches und eine Zukunftsperspektive seiner enormen Möglichkeiten zu geben.

Der Nachfolger des Zaren im Sowjetstaate, der Bauer Kalinin, der Präsident des altrussischen Exekutivkomitees ist, aber jeden Sommer in Hemdsärmeln an der Erntearbeit auf seinem Hofe im Gouvernement Twerskaja teilnimmt, hat als wichtigstes russisches Problem im Augenblick „die Entwicklung der Produktionsfähigkeit unserer Landwirt­

schaft auf der Grundlage ökonomischer Verdienstberech­

nungen" aufgestellt.

Er sieht in der Ausstellung ein Hauptmittel, dieses Ziel zu erreichen, und hat eine offizielle Aufforderung an das Ausland gerichtet, die Gelegenheit zu benutzen, um die Ver­

bindung zwischen der russischen Landwirtschaft und der Industrie des Westens zu knüpfen, eine Verbindung, die seiner Meinung nach beiden Parteien zum Vorteil gereichen wird.

Von großer Bedeutung ist es, daß die Ukraine, deren Pavillon voriges Jahr in Prag „der goldene Nagel" der Aus­

stellung genannt wurde, sich mit allen Kräften beteiligen will. Ihr Präsident R a k o w s k i (einer von Lenins Thron­

folgerkandidaten) hat erklärt, daß die Ukraine alles tun wird, um sich bei dieser Gelegenheit als Kornkammer der Föde-rativ-Republik zu behaupten.

In allen größeren Städten Rußlands hat die Regierung

„Bauernhäuser" als Zentralen für die Aufklärungsarbeit unter den Bauern errichtet. In Moskau liegt die Haupt-zentiale Dom K r i s t i a n i a — „Haus der Bauern".

Man hat dazu einen größeren früheren Hotelkomplex im Zentrum der Stadt nationalisiert. Alle Läden im Erd­

geschoß sind an private Geschäfte, darunter ein Kino,

ver-K i r k e b y , R u s s i s c h e s T a g e b u c h . 4

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mietet, und die Miete bezahlt den Betrieb des Hauses. Die übrige Aufsicht ist dem Muschik überlassen.

Hierher kommen die Bauern mit Lapti und Portianki und rotem Bart aus allen Gegenden Rußlands gereist. Hier bringen sie ihre Fragen und Wünsche und Klagen vor. Die Regierung hat die tüchtigsten Experten engagiert, die um­

sonst Auskunft in allen landwirtschaftlichen Fragen, in juristischen und ökonomischen Dingen erteilen. Hier ist ein Muschik aus Simbirsk, der wegen einer Krankheit unter den Schweinen um Rat fragt, dort sind zwei aus Rostow, die neue Sämaschinen kaufen und nun die Gelegenheit benutzen wollen, einen alten Streit um einen Wasserlauf ent­

scheiden zu lassen oder ihren Hanf zu verkaufen. Ich besah eines Tages den ganzen Betrieb unter Führung des Hauskommandanten: Es gab natürlich einen Lesesaal und eine Bibliothek, es gab Vorlesungssäle, in denen die kun­

digsten Agronomen über Haustiere und Zucht sprachen, es gab ein besonderes Kino, wo die neuesten amerikanischen Mähmaschinen und die besten australischen Melkmethoden in lebenden Bildern gezeigt wurden. Am wichtigsten von allem war vielleicht eine reichhaltige Museumsabteilung, wo die Bauern alles anschaulich dargestellt finden, was mit Landwirtschaft zu tun hat: Proben von Erde, Dünger, Ge­

treidearten, Modelle von Haustypen, Bilder von Haustieren, Schemata über Krankheiten, Statistiken über Sämereien, nützliche Vögel, schädliche Insekten, praktische Melk­

eimer, Muster von elektrischen Einrichtungen für einen Bauernhof. . . . Ein paar Professoren waren zur Stelle, um Erläuterungen zu geben, und mit einem ging ich auf die lagd nach Ausstellungsgegenständen, die aus Skandinavien stammten. Da waren Pflüge aus Amerika, Modelle von holländischem, englischem und ostpreußischem Vieh, aber

nur ein paar schwedische Separatoren; das Modell eines Futtertroges war „Dänische Muster-Fütterung" genannt, ich habe nie gesehen, daß einer Kuh in Dänemark das Essen nach diesem Patent serviert wurde.

Fin ganzes Stockwerk wurde als Schlafraum benutzt.

Hier wohnten die Bauern zu zweien oder dreien zusammen für wenige Rubel die Nacht. Hier befanden sich Bade­

zimmer, Wäscherei und Speisesaal. Bei der Ankunft sind die Bauern verpflichtet, zu baden und ihr Zeug desinfizieren zu lassen; in der Zwischenzeit liefert man ihnen leihweise a n d e r e s Z e u g . Ü b e r a l l s a h m a n I n s c h r i f t e n : D i e s e s Z e n t r a l h a u s d e r B a u e r n g e h ö r t d e m V o 1 k e ! A c h t e g u t a u f a l l e s , a l l e s h i e r i s t E i g e n t u m d e s V o l k e s ! Außerdem gehören zu dem „Plans der

Hauern zwei fünf Werst vor Moskau gelegene Musterhöfe;

in dem einen betreibt man modernen Ackerbau und Vieh­

zucht, in dem anderen rationelle Obstzucht. Hierher kommen die Bauern und sehen die Theorien blühen und Früchte tragen.

Die Konsulenten erzählten, daß sie täglich 8o bis ioo neue Besucher hätten. Man hat bereits mit Erweiterungs­

bauten begonnen und wird in einem Monat fünf Stockwerke mit Ketten in Gebrauch nehmen. I\ach einwöchent­

lichem Aufenthalt in der Hauptstadt reist der Muschik dann nach Hause mit neuen Ansichten und mit einer neuen Pflug­

schar als Gepäck. Dieser und jener läßt auch seine Lapti und Portianki zurück, trägt statt dessen ein Paar Schaft­

stiefel und hat das Hemd in die Hose gesteckt — eine Mode, die Bismarck bekanntlich nicht leiden konnte.

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