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M aterialism us-D iskussion

In document Slægtsforskernes Bibliotek (Sider 92-95)

3. Philosophie und N aturw issenschaften

3.3. M aterialism us-D iskussion

Johann Bernard Stallo (1823-1900) __________ 91

M it seinem Eintreten gegen religiösen Fanatismus38, für Religionsfreiheit und mit seinem Bemühen, Religion mit einem rationalen Humanismus in Einklang zu bringen, machte Stallo auch Eindruck auf Conway, den Anführer der Unitaristischen Religi­

onsgemeinschaft in Cincinnati, die beispielsweise das Dogma der Dreifaltigkeit ab­

lehnte. M it Conway stimmte er zudem in der Frage der Ablehnung der Sklaverei über­

e in /9 Dass Stallo in dieser Zeit auch gelegentlich von deren Kanzel seine Ideen ver­

breitet haben soll, führte bei einigen Mitgliedern der german community und sogar unter seinen Bekannten zu einigem Kopfschütteln.40

Die Zurückdrängung des Religiösen - für viele Lebensorientierung und Stabilisa­

tor im Alltagsleben - im Hinblick auf eine anders ausgerichtete Wertorientierung führ­

ten bei Stallo dann zu einer verstärkten Auseinandersetzung und zur Annäherung an die demokratischen Prinzipien eines Thomas Jefferson, der die Trennung von Staat und Kirche und die Etablierung der unbedingten Religionsfreiheit durchgesetzt hatte.41 Diese neue Ausrichtung zeigte sich 1870 eindrucksvoll in seinem Beitrag zum soge­

nannten Bibel-Prozess. 1876 nahm er die Katholiken allerdings ausdrücklich gegen den Vorwurf des Ultramontanismus in Schutz. In seinem Denken und Schreiben zeigte sich immer wieder, wie prägend die Naturphilosophie und die den Verlauf der Ge­

schichte bestimmende N atur geworden waren. Die gewonnene und allseits bekannte Distanz Stallos zu Theologie und Katholizismus war ein weiterer Grund für seine Un­

terstützer, um 1885 dam it Stallos Nom inierung für den Diplomatenposten in Rom zu forcieren.

92 Oldenburgische Gesellschaft für Familienkunde - Jahrbuch 2016

Stallo bezog eindeutig Position gegen die - damals offenbar in deutschen Zeit­

schriften besonders häufig geäußerte - Leugnung des Geistes44 durch die untereinan­

der zerstrittenen Anhänger des Materialismus, gegen die reinen Atomistiker und Em­

piriker, nach Stallo alles Leute mit einem entwurzelten Gedanken- und Gemütsleben.

„Aller Materialismus wurzelt in der Behauptung, daß die Sinne die alleinigen Quel­

len oder Vermittler unserer Erkenntniß sind.“ Folglich sei für sie der Geist lediglich ein Reflex materieller Gegenstände - Atome oder Moleküle - in ihrer räumlichen und zeitlichen Beziehung.43 Weil Stallo das nicht nachzuvollziehen bereit war, nahm er den Materialismus und seine Vertreter mit ihren Entgleisungen - an manchem Stellen mit sichtbarem Vergnügen und ironischen Seitenhieben46 - „ins Verhör.66

Bei der Grundfrage nach Geist und/oder Materie, nach dem „innen“ und dem „au­

ßen“, dem „vor“ und „nach“ könne - so Stallo weiter - das aufgestellte Kausalitäts- gesetz das Wesen der angeblich nur sinnlich erfassbaren Dinge47 aber allein nicht er­

klären. In der Nachfolge von Kant, Fichte, Berkeley und anderen Gewährsleuten aus ganz Europa verstand Stallo die Welt als einen Verbund menschlicher Vorstellungen, also das Resultat menschlichen Denkens. Er rechnete ausführlich und wortmächtig mit der Absurdität des - auf der mittelalterlichen Scholastik fußenden - Materialismus ab und zerpflückte die „Anarchie“ in den Annahmen der Anhänger. „Damit man nicht glaube, wir bewegen uns hier a u f dem Felde der logischen Spitzfindigkeiten und Schrullen“ belegte Stallo seine Ablehnung mit zahlreichen Beispielen aus verschiede­

nen Bereichen der praktischen Chemie48, die dem Leser eine Menge Vorwissen abfor­

derte und dessen Durchhaltevermögen arg strapaziert haben dürfte.

Dieser Abhandlung thematisch zuzuordnen ist die als Fragment gekennzeichnete Schrift über „Die Naturwissenschaft und ihre Grundanschauungen“; sie wurde 1865

44 „(...) nur das sinnlich Wahrnehmbare ist wirklich“ (Reden Nr. 4, S. 79, alles gesperrt). - „Der Mate­

rialismus ist gezwungen, bei seinem Erbfeind, dem Idealismus, betteln zu gehen, um nur die gegen­

ständliche Wirklichkeit seiner Materie zu retten. Die Erfahrung erklärt uns auf’s Unzweideutigste, daß nach ihren Kriterien allein die Materie sich als bloßes Hirngespinst darstellt, so daß wir, nachdem wir vorneweg den Geist geläugnet, dem absoluten Nihilismus anheimfallen“ (S. 83).

45 „Das Greifbare, unzweifelhaft Wirkliche, worauf sich der Materialist so viel zu Gute thut, löst sich also durch seine eigene Analyse auf in bloße Raumbestimmungen. Der Raum, seine Grenzen und sein Wechsel sind das einzige Wirkliche, was von der Materie übrig bleibt“ (S. 84 f).

46 „Das Universum ist eine Art von Ballsaal, in welchem die Atome ewig ihren Kotillon tanzen; es ist aber sehr unstatthaft, die Materialisten zu fragen, wer denn eigentlich zu diesem Tanz geige“ (S. 88).

- „Wie aber das Hirn aus Rohstoffen, die gar nicht in’s Hirn selbst hineingelangen ( ...) - nämlich aus den äußeren Gegenständen - Anschauungen, Vorstellungen und Begriffe absondern soll, das ist ein Vorgang, bei dem wir in stummer Andacht uns alles Begreifens begeben“ (S. 96). - „Es ist ein Irrthum, zu meinen, die Empirie stehe auf der einen Seite und die sogenannte Philosophie auf der andern. Die Empirie setzt stillschweigend ein ganzes Philosophem voraus, obwohl sie sich geberdet, als mache sie gegen alle Philosophie Fronte; und dies Philosophem kann sich eben nicht rühmen, nach besseren Re­

zepten zusammengebraut zu sein, als andere Systeme“ (S. 101).

47 „Das Ding hat also nicht Eigenschaften, es ist in und durch seine Eigenschaften. Diese Eigenschaften aber haben sammt und sonders keinen eigenen Bestand (...)“ (S. 85).

48 Mit besonderem Verweis auf J. D. Dana und mit einem Zitat von Hunt (siehe Anm. 29): „Die che­

mische Verbindung ist nicht eine Aneinanderlagerung der Atome (...), sondern ein gegenseitiges Durchdringen der Elemente“ (S. 90). - „Am schlimmsten ist der Wirrwarr und der Hypothesenlärm in der organischen Chemie. In den populären Büchern sieht es da natürlich wieder recht schön aus;

man meint, die Moleküle [!] hätten Schilder auf dem Rücken, und man könnte sie in ihrem Durch­

gang durch die unzähligen Verbindungen unverwandt im Auge behalten. Aber an der Thüre des La­

boratoriums wimmelt es von Fragezeichen“ (S. 92).

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in „Deutsch-amerikanische M onatshefte“ veröffentlicht.49 Stallos Eingangsthese lau­

tete hier: „Der Ausgangspunkt der geistigen Bestrebungen der Neuzeit liegt in der na­

turwissenschaftlichen Forschung. Das Denken der Menschen unserer Tage zehrt nicht mehr an theologischen Deberlieferungen oder metaphysischen Begriffen; seit drei Jahrhunderten brennt die Flamme der Erkenntniß a u f dem Leuchter der Naturbeob­

achtung und Erfahrung. “

In zwei Hauptkapiteln setzte sich Stallo mit der Entwicklung und mit den Folgen der Vertiefung der wissenschaftlichen Erkenntnis auseinander. Stallo betonte, dass N a­

turwissenschaft inzwischen nicht mehr nur materielle Bedürfnisse befriedige, den praktischen Zwecken des Alltags diene, sondern sie habe „das Bewußtsein der Herr­

schaft a u f den weitesten Gebieten des menschlichen Interesses“ erlangt. Er hielt fest, dass erst die Neuzeit geprägt sei vom kontinuierlichen Umbau der Naturwissenschaft zur „Erfahrungs-Wissenschaft“, nachdem vor allen Kopernikus, Kepler und Galilei den Startschuss gegeben hätten; der Prozess der Entwicklung und der Weitergabe von Erkenntnissen und Gedanken sei durch die Ausdehnung der Erkenntnis auf immer mehr Forschungsgebiete und immer neue Gegenstände beschleunigt w orden?0

Stallo sah diesen allmählichen Reifeprozess der stetig wachsenden wissenschaftli­

chen Natur-Erkenntnis mit dem Ziel der systematisierenden Welt-Erklärung gekoppelt an diese Anwendung menschlichen Denkens - die „Seele der Wissenschaft“, wie er be­

tonte. Die Entwicklung sei durchaus mühevoll und keineswegs so gradlinig und ver­

nunftgesteuert verlaufen, wie Hegel, Comte und andere behauptet hätten. Stallo sah den ersten Schritt in der Anwendung der Erfahrung und in dem Erkennen der ver­

schiedenen Erscheinungen01; erst dann könne der Mensch in einem Prozess fort­

schreitender Vervollkommnung die zweite Stufe erreichen: Dem Wahrnehmen der Ver­

schiedenheiten musste dann das Erkennen der höheren Einheit folgen.52

Die Kosmos-Verehrung der Antike oder der Schöpfungsgedanke des Christentums waren also - dessen war sich Stallo gewiss - inzwischen ersetzt worden durch das Welt­

bild, dem die exakt vorgehenden Naturwissenschaftler folgten. Hier wusste sich Stallo in Übereinstimmung mit den führenden Köpfen der europäischen Naturwissenschaft, die auf die Mittel der Technik setzten und sich von den Ergebnissen der naturwissen­

schaftlichen Forschung neuen Sinn und feste Orientierung versprachen. Dass die wis­

senschaftlich-technisch orientierte Zivilisation notwendigerweise nur in einer libera­

len Gesellschaft vonstatten gehen konnte, war dem auch in das politische Tagesgeschäft publizistisch eingreifenden Stallo selbstverständlich.

49 Reden Nr. 5, S. 103-147.

50 „Denn alle Erkenntniß, welchen Namen sie auch führt, ist N aturerkenntniß und zwar wissenschaft­

liche Naturerkenntniß (...), ein logischer Akt, eine Gedankenthat“ (S. 116). - „Wir Alle sind mit den geistigen Errungenschaften der Zeiten vor uns ausgestattet und bewaffnet. Die Gedankenleistungen unserer Vorfahren bilden unsere Organisation“ (S. 109).

51 Denn glücklicherweise „erkennt der Menschengeist die Unerreichbarkeit absoluter Begriffe, verzich­

tet auf die Erkenntniß des Ursprungs und der Bestimmung der Welt, und begnügt sich mit der Erfor­

schung der räumlichen und zeitlichen Beziehungen der Dinge, ihrer Aufeinanderfolge und Aehnlich- keit“ (S. 113).

52 „Das Ziel (...) wäre erreicht, wenn man alle Erscheinungen als besondere Fälle eines besonderen Grundphänomens, - nicht einer Grundursache, wie die Theologen es wollen, auch nicht eines Grund­

wesens im Sinne der Metaphysiker, sondern einer Urthatsache - aufgewiesen hätte; aber dieses Ziel ist unerreichbar“ (S. 113). „Das Zurückführen der Folge auf den Grund, der Wirkung auf die Ursa­

che ist nichts als eine solche Identifikation des Verschiedenen“ (S. 118).

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Dabei wirkten in diesem - immer sprachlich vermittelten - Erkenntnisprozess un­

bewusst aufgenommene Faktoren wie etwa Geographie, Ethnologie, Psychologie, Physiologie, Biologie und verbanden sich mit bewusst wahrgenommenen kulturge­

schichtlichen Faktoren, etwa Religion, Philosophie, Kunst, Wissenschaft. Das durfte aber keineswegs zu dem Schluss führen, dass die Grundbedingungen des Erkenntnis­

prozesses - der allenfalls verzögert, aber nicht aufgehalten werden konnte - Autono­

mie und Freiheit des menschlichen Geistes unmöglich machten.

Im zweiten Kapitel befasste sich Stallo mit früheren Entwicklungsstufen dieses Er­

kenntnis-Gewinns, den die Menschheit inzwischen erzielt habe - und das mit ausla­

dend ausgebreiteten Beispielen verschiedener Phasen der Entwicklung der Erde und in der Tier- und Pflanzenwelt. In seinen breit ausgewalzten Darlegungen ließ er sich zu­

dem ein auf die Darstellung - der noch weitgehend mystisch-religiös gedeuteten - frü­

hen Geschichte Chinas, Indiens, des Orients mit Ägypten und Israel - so weit er sie wahrgenommen und den rezipierten Kenntnisstand für seine Sichtweisen gedeutet hatte. Griechenland habe dann mit seinem angewandten abstrakten Denken die posi­

tive Endstufe dieser Entwicklung erreicht, w orauf die weitere Entwicklung des abend­

ländischen - nach Stallo: überlegenen - Erkennens fuße.

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