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Der Kampf für Reformen seit 1872

In document Slægtsforskernes Bibliotek (Sider 164-172)

Spätestens nach dem 1868 überstandenen Amtsenthebungsverfahren gegen den Lin- coln-Nachfolger und 17. Präsidenten Andrew Johnson wurde klar, dass im Staat nichts entscheidend geändert, sondern lediglich der Vorkriegszustand wiederhergestellt wer­

den sollte - abgesehen von der vermiedenen Sezession und dem verkündeten Ende der Sklaverei. Das Verhältnis zwischen Präsident und Parlament war belastet. Um seine Ziele zu erreichen, drohte der Präsident mit der Gründung einer eigenen konservati­

ven Partei. Das Parlament, das die Union zu stärken trachtete, stellte den Süden unter M ilitärverwaltung, drängte die alten Eliten aus den Ämtern und knüpfte Bedingungen an die Wiederaufnahme in die Union.

In der bis 1877 dauernden Phase der „reconstruction“ stand die US-Politik vor der schwierigen Aufgabe, den Nationalstaat neu zu bauen und die Bürgerkriegsgegner aus dem Süden unter das Dach einer Verfassung zurückzuholen, deren Auslegung und Aus­

gestaltung jetzt allein der Norden bestimmte. Damit ergab sich eine neue politische Chance für Personen, die weiterhin die Republikaner wählen wollten oder ihnen na­

hestanden.

Schon in der 1869 beginnenden ersten Amtszeit des ehemaligen Unionsgenerals und nunmehrigen 18. Präsidenten Grant sollte sich bald heraussteilen, dass die Reform­

bewegung ins Stocken geriet und immer mehr Opponenten auf den Plan rief. Die ge­

rade begonnene wirtschaftliche und soziale Neuordnung des Südens blieb Stückwerk.

Neues war auch von den Demokraten nicht zu erwarten; deren Partei erlebte zwar eine Wiedergeburt im Süden, sie aber tat nichts für die Gleichbehandlung der Schwarzen im Alltag.

Stallo begann von den Republikanern Ende der 1860er Jahre wieder abzurücken.

Nach Ratterm anns Beobachtung wurde Stallo nicht nur „zusehends schweigsamer. Er bemerkte, daß man nicht nach dem Recht strebte, sondern nach Gewalt. “ Er gab R at­

termann im Nachhinein recht bezüglich dessen - bereits 1854 geäußerter - Skepsis über die nur begrenzten Reform-Möglichkeiten in und mit der neuen Republikanischen Par­

tei. Zu dieser Zeit war sich Stallo noch mit Schurz einig, der sich einem - bei den Deutschamerikanern häufig anzutreffenden - liberalen Ansatz im politisch-theoreti­

schen Denken verpflichtet fühlte und zu diesem Zeitpunkt noch die Orientierung an Prinzipien und weniger die pragmatische Ausrichtung der Politik bevorzugte.

Die 1870 entstehende überregional orientierte Reform-Bewegung ging auf die Ini­

tiative deutschstämmiger Republikaner in Missouri zurück; sie bestand aus den W äh­

lern, die auf Distanz zu beiden großen Parteien gingen. Diese Bewegung wollte sich als eine Art Speerspitze verstanden wissen; ihr Programm war gleichsam als Kampf­

ansage gegen die staatliche Bevormundung und gegen unfähige und korrupte Beamte zu verstehen. Darin war die Rückkehr zu bewährten amerikanischen Werten vorge­

geben, die Ermöglichung des freien Spiels der politischen und gesellschaftlichen Kräfte und die „Selbstbestimmung in den Angelegenheiten des Individuums, der Familie und der Gemeinde “ Demzufolge mussten - der Meinung war Stallo auch - die alten Par­

teien67 verschwinden und durch eine Reformbewegung ersetzt werden, in der „eine Ver­

bindung der besseren Elemente beider Parteien“ ermöglicht werden konnte. Ein

sol-67 Siehe oben Kap. 4.3. (S. 109 f).

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eher Neubeginn war auch in Stallos Augen nur in Gestalt einer neuen prinzipientreuen und patriotischen Partei möglich. Allein eine solche Bewegung, die die alten Parteien ablöste und sich neuen Ideen öffnete, war in der Lage, Reform und Frieden sicherzustellen sowie demoralisierte und apathisch gewordene Bürger zurückzugewinnen.

Hauptziel der Reformer - auf dem Hintergrund der heraufziehenden ökonom i­

schen Krise der 1870er Jahre - war es, mit allen Mitteln und Personen eine Wieder­

wahl von Grant zu verhindern. Auch viele Deutschamerikaner waren mit der Art und Weise nicht einverstanden, wie diese Rekonstruktion des Südens inzwischen durch­

exerziert wurde. Man lehnte den Einfluss der radikalen Parteianhänger in Sachen Trup­

penpräsenz und Militär-Verwaltung im Süden ab. Hierin trafen sie sich mit Personen, die früher eher die Demokraten unterstützt hatten und die neue Bewegung mit Sym­

pathie betrachteten. Zu den Anliegen der Deutschamerikaner gehörten außerdem die Bekämpfung wieder auflebender fremdenfeindlicher Tendenzen ebenso wie die wieder stärker werdende Agitation der Temperenz-Anhänger68 und der Sabbath-Bewegung, die in der Republikanischen Partei Anklang fanden. M it zur Jahreswende 1871/72 be­

kannt gewordenen Waffenlieferungen an die Franzosen während des deutsch-franzö­

sischen Krieges hatte sich Grant weitere Sympathien bei Deutschamerikanern ver­

scherzt.

In einer Rede über „Politische Reform“69 am 24. Februar 1872 in der Arbeiterhalle von Cincinnati vertrat Stallo öffentlich seinen Standpunkt vor einem aus dem okrati­

schen wie republikanischen Wählern zusammengesetzten Publikum. In dieser Rede klang Stallo wie ein Sprachrohr der Liberal-Republikaner. Weil jetzt wieder, diesmal durch die Politik der herrschenden Republikanischen Partei, der Staat in Gefahr sei, fühlte sich Stallo zu diesen Äußerungen veranlasst.

Er unterstrich zu Beginn seiner Rede den Charakter der M einungsäußerung, da er weder auf Stimmenfang sei, noch auf eine Stimmabgabe für eine bestimmte Partei ab­

ziele, sondern einen K ontrapunkt setzen wolle gegen die übliche „demagogische Schönrednerei“ auf Wahlversammlungen und Kongressen - auch wenn er damit ris­

kiere, einige seiner Zuhörer zu brüskieren. Obwohl er sich 1856 nach der Frémont- Kampagne vorgenommen hatte, sich „nie wieder öffentlich an der politischen Dis­

kussion zu betheiligen“ und seiner Bürgerpflicht nur mehr in Form der Stimmabgabe nachzukommen, wolle er jetzt unbedingt seiner „Entrüstung über [die] herrschenden M ißstände“ sowie „über das Treiben gewissenloser Intriganten“ Ausdruck verleihen.

Die Republikaner hatten aus seiner Sicht seit 1860 mit Lincoln zwar erfolgreich den Kampf gegen die Sklaverei und für den Erhalt der Union geführt. Die notwendige Sta­

bilisierung des durch den opferreichen und kostspieligen Bürgerkrieg geschwächten Staates und der Abbau der auf drei Billionen Dollar aufgelaufenen Staatsschulden sei ihnen aber ebenso wenig gelungen wie die Herstellung des inneren Friedens und einer stabilen politischen wie einer gerechten sozialen Ordnung im Süden. Lediglich mehr direkte Steuern und mehr zu besoldende Beamte waren dabei herausgekommen. Ge­

radezu verhängnisvoll hielt Stallo den Zugriff der Republikaner auf die Einfuhrzölle.

68 Nagler (S. 418 Anm. 10) nennt das im Januar 1872 von beiden republikanischen Häusern Illinois ver­

abschiedete Temperenz-Gesetz.

69 Reden Nr. 16, S. 278-304. In seinem offenen Brief vom 28.08.1876 verlegte JBS die Rede in den „März 1872“ (Reden Nr. 18.3, S. 391), HAR (S. 37) sogar auf Anfang Mai.

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Das zweite M anko der herrschenden republikanischen Partei war für Stallo die überbordende Korruption in der Verwaltung und bei den Richtern. „(...) Unfähigkeit, Unehrlichkeit und Charakterlosigkeit sind förmlich zu republikanischen Tugenden ge­

w orden' - so lautete sein vernichtendes Urteil. Der amtierende Präsident Grant sei viel­

leicht im Bürgerkrieg ein fähiger Offizier gewesen, keinesfalls aber habe er sich als kenntnisreicher, fähiger und anständiger Präsident erwiesen.70 M it den Stimmen der politisch unerfahrenen und weitgehend unwissenden Schwarzen sei nur Schindluder getrieben, die Wiedereinführung der Selbstregierung dort verschleppt und die Ver­

söhnung mit dem Süden sogar willentlich hintertrieben worden.

Stallos Fazit fiel ebenso klar wie ernüchternd aus: Beide großen Parteien waren aus seiner Sicht reformunfähig, sie hätten ihre einstigen Verdienste verspielt und damit ihre Daseinsberechtigung als Regierungspartei verloren; wiedergewählt würde die Repu­

blikanische Partei - notfalls unter Opferung der Person Grants - nur ihren Betrug fort­

setzen. Der scharfen Abrechnung mit Grant folgte die ebenso deutliche Aufforderung an seine Zuhörer, Stellung zu beziehen; immerhin hatte Grant schon zwei zusätzliche Bundesrichter ernannt, um die Befugnisse des Kongresses bei der Finanzgesetzgebung auszumanövrieren.71 Allein eine zu bildende „Fortschrittspartei der Z u k u n ft“'1 könne die dringlichen Aufgaben anpacken: Die Staatsschulden müssten heruntergefahren werden, ohne die Papierwährung aufzublähen; die Verkehrsfreiheit müsse garantiert und die Schutzzölle abgeschafft werden. Die Union und die bundesstaatlichen Elemente sollten gleichermaßen gestärkt werden; der Beamtenapparat müsse reformiert werden und dürfe nicht länger eine Beute der Parteipolitiker sein.

Stallo forderte seine Zuhörer auf, die von den liberalen Republikanern aus Mis­

souri ins Leben gerufene Initiative zu unterstützen; sie sollten gemeinsam für den im Mai in Cincinnati stattfindenden Reform-Kongress Delegierte entsenden, die für die verantwortungsvolle Erledigung der Zukunftsaufgaben sorgen sollten. Stallo wollte alle und vor allem die Deutschstämmigen unter seinen Zuhörern ermuntern, sich so wie er selbst aktiv für ihr „Adoptivvaterland“ einzusetzen, nicht ohne am Schluss sei­

ner Rede das republikanische Vorgehen zu karikieren.73

70 „Und daß Grant diesen Anforderungen nicht genügt, ist durch seine Amtsführung vollständig klar ge­

worden. Seine Botschaften beweisen, daß ihm Volkswirthschaft, Verwaltungslehre und überhaupt po­

litische Kenntnisse sowohl unbekannte, als gleichgültige Dinge sind, und aus seinen Anstellungen geht hervor, daß ihm nicht nur der zur Würdigung des wirklichen bürgerlichen Verdienstes nöthige Sinn, son­

dern sogar das Gefühl des gewöhnlichen Anstandes durchaus abgeht“ (Reden Nr. 16, S. 291 f). Die auf Stallo bezogene Einschätzung von Efford (S. 225 [meine Unter Streichung]: „Even Sigel und Stallo, who had stumped for Grant in 1872, went over to Tilden“ ), die sich auf zwei Zeitungsartikel aus dem „Wo­

chenblatt des Wisconsin Banner und Volksfreund“ vom August 1876 beruft, kann ich nicht teilen.

71 „Meine Herren, die republikanische Partei ist nicht mehr in’s Leben zu rufen“ (Reden Nr. 16, S. 296).

- „ ( ...) es ist an der Zeit, mit der Geschichte beider Parteien zu brechen. (...) Es steht ein für allemal fest, daß es von jetzt ab in diesem Lande nur freie, gleichberechtigte Bürger geben wird, daß an den zur Gewährleistung dieser Gleichberechtigung in unsere Bundesverfassung aufgenommenen Para­

graphen nicht gerüttelt werden darf (...)“ (S. 299).“

72 JBS erwähnte eine Episode, als ein „greiser Pfälzer“ als Reaktion auf eine Rede später beim Wein für die neue Partei den Namen „Die Demokratie“ vorschlug (1876, Reden Nr. 18.3, S. 391). JBS benutzte diesen Begriff in seinen Wahlkampfbeiträgen der 1870er Jahre wiederholt als Synonym für die De­

mokratische Partei (vgl. z.B. Anm. 74).

73 „Ich kann Ihnen als Preis Ihrer Bemühungen weder eine dänische Gesandtschaft noch eine südliche Hafenkollektorstelle in Aussicht stellen; aber das kann ich Ihnen versprechen, daß Sie am Schluß des

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Im Hause Stallo fanden verschiedene Treffen am Rande des am 1. Mai 1872 eröff- neten ersten Nationalkonvents liberaler Republikaner statt. Neben Missouri, Illinois, Wisconsin und Iowa war auch in Ohio die Zahl der Reform-Anhänger besonders groß.

In Cincinnati mit seinen über 50 000 Deutschstämmigen bot sich mit der Musikhalle ein geeigneter Tagungsort an. Die innerrepublikanische Opposition hatte mit ortsan­

sässigen Zeitungen „Volksblatt“, „C ourier“ und mit dem landesweit verbreiteten, ein­

flussreichen „Commercial“ einen zuverlässigen publizistischen Rückhalt hinter sich.

Von den 661 Teilnehmern waren 84, also fast 13% Deutschamerikaner; letztmalig fand sich eine beachtliche Anzahl von „Vormärzlern“ und „Achtundvierzigern“ zu einer lan­

desweit beachteten Versammlung zusammen. Stallo wurde mit Butz, Hassaurek, He­

cker74, Körner, Münch, Rümelin, Schurz73, Thieme, Willich und anderen zur Spitze der Deutsch-Amerikaner in dieser keineswegs geschlossen auftretenden Opposition ge­

rechnet. Der kleinste gemeinsame Nenner dieser bunten Schar76 aus 23 Bundesstaaten war die Verhinderung einer Wiederwahl des unter Korruptionsverdacht gestellten Prä­

sidenten Grant und die Nominierung des unbelasteten Charles Adams.

R atterm ann77 nennt zwei zur gleichen Zeit in Cincinnati stattfindende Versamm­

lungen: Einmal der am 24. Januar in Jefferson City/Missouri verabredete Kongress78 der Liberalrepublikaner unter dem Vorsitz von Schurz in der Musik-Halle. Daneben gab es die Versammlung der Reformbefürworter in der M ozart-Halle, an der Stallo teilnahm. Ratterm ann stellte es aus seinem Erinnern so dar, dass er von M achen­

schaften in der Musik-Hallen-Versammlung gehört hatte und deshalb selbst am 2. Mai einen Antrag in der M ozart-Halle unterbreiten wollte: Die Delegierten sollten be­

stimmen, dass sie auf eine eigene Nominierung verzichteten, wenn die Liberalrepu­

blikaner Adams benannten; geschehe das nicht, solle die Reform-Versammlung einen eigenen Kandidaten berufen und eine eigene Plattform beschließen. Auf Bitten von Stallo ließ Ratterm ann seinen Antrag bis zum nächsten Tag ruhen, um Schurz’ Ver­

handlungsführung in der Musik-Halle nicht zu gefährden.

Wahlkampfes, gleichviel ob wir siegen oder unterliegen, Ihr mit ehrlicher Arbeit verdientes Brod in dem Bewußtsein essen werden, Ihre Bürgerpflicht gethan zu haben. Und ich kann Ihnen ferner die Ver­

sicherung geben, daß das Volk in seinen Arsenalen Waffen hat, mit denen nur auf unserer Seite ge­

kämpft werden kann: die Waffen der fortschreitenden Erkenntniß und des allmählich wieder erwa­

chenden sittlichen Gefühls; und gegen den Andrang dieser Waffen haben die alliirten Mächte des Wahns und der Korruption auf die Dauer noch nie Stand gehalten“ (Reden Nr. 16, S. 303).

74 Auf Hecker und Münch ist JBS Bemerkung gemünzt, „dass die besseren Mitglieder der republikani­

schen Partei, die mit uns in der Reformarbeit gemeinschaftliche Sache machen sollten, sich von ihrem Mißtrauen gegen die Demokratie nicht werden freimachen können“ (1876, Reden Nr. 18.3, S. 391).

75 In C.S. dreibändigen „Lebenserinnerungen“ (Berlin, 1906-12) wird nur die Zeit bis 1869 behandelt;

JBS ist nicht erwähnt. Das gleiche gilt für die abgedruckten Briefe (Bd. 3). - Die Person von S., des­

sen Verdienste um den Staat selbst von eingefleischten Nativisten nicht angezweifelt wurden, diente gerade in den Zeiten vermehrter Anfeindung deutschstämmiger Amerikaner als Identifikationsfigur.

So noch ein anonymer Hagiograph in: „The Illustrated Weekly. Deutsch-Amerika“, Bd. 10.9, New York 1924, S. 12-13.

76 „(...) professional politicians, newspaper editors, free traders, carpetbaggers and scalawags who had broken with Grant, veteran free-soilers and abolitionists, and a large faction of old Forty-Eighters“

(Honeck, S. 179).

77 Ausführlich und v.a. über seine eigene Rolle: S. 37-40. Es ging HAR darum, diese Vorgänge „nur mit wenigen Strichen zu zeichnen und einige nicht allgemein bekannte Intriguen durch frische Lichter be­

leuchten“ zu wollen. Seine Resolution vom 3.05.1872 ist im „Cincinnati Commercial“ abgedruckt worden (S. 54 Anm. 13).

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Abb. 39: Opernhaus (vorher Mozart-Halle), renoviert 1874

Obwohl keiner zum Kongress eingeladen oder zugelassen worden war, der das Mis­

souri-Programm nicht unterschrieben hatte, war der Schwur schon bei der Ausklam- merung der zentralen Schutzzoll-Frage gebrochen worden. Von einer „Förderung eines gemeinsamen Z w eckes“ konnte, wie Stallo sich im September rückblickend aus­

drückte, keine Rede mehr sein. N ur noch eine Minderheit hatte versucht, am Pro­

gramm der Missouri-Reformer festzuhalten. D ort allerdings scheiterte die Wahl von Adams am 2. Mai knapp und andere übernahmen die Versammlungsregie79; „nun flog das Geld ganz offen um her“ - wie Ratterm ann dazu festhielt. Schon am 3. Mai wurde Greeley zum Kandidaten gekürt. Damit war es zu spät, um in der M ozart-Halle R at­

termanns Antrag an die dort versammelten Delegierten zu stellen und um noch ge­

genzusteuern zu können.80 Viele resignierten oder schwiegen ganz, als klar wurde, dass die Reformer gescheitert waren.

Prinzipienfeste, zu denen Stallo sich zählte, gerieten in die Defensive und in den Ruf,

‘Apostaten, Doktrinäre und Ideologen’ zu sein; doch auch wenn Stallo durchaus zu

78 „Stallo ließ sich nicht als Abgeordneter zu dieser Konvention wählen, mit dem Bemerken, er sei kein Republikaner mehr, weder ein liberaler, noch anderweitig, sonder nur mehr Bürger“ (S. 37).

79 Zu den auch von HAR genannten Drahtziehern wie Brown (Greeleys postulierter Vizepräsident), Cochrane, Hutchins, McClure und McLean (HAR nannte ihn den „Judas Iskariot der demokratischen Partei“ ) zählte JBS noch Fenton, Ben Wood, John Kelly.

80 „Stallo kam mit leichenblassem Gesicht in den Saal und hielt eine Rede für die sofortige Vornahme von Nominationen und Aufnahme der Berichterstattung des Kommittés an Beschlüsse. Niemand gab darauf Acht, und die Konvention vertagte sich sine die“ (S. 39).

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Kompromissen bereit war, ging er nicht so weit, die selbst gezogene rote Linie der Prin­

zipientreue zu überschreiten. Die Hoffnung auf einen neuen „Volksfrühling (...), eine Wiedererbebung des ächt republikanischen Geistes, der die Partei wieder a u f die Bahn des Fortschritts führen sollte“, war gründlich zerstört.81 Stallo blieb nach Rattermanns Darstellung jedoch „nicht still“, sondern machte seiner Enttäuschung Luft.82 Die Re­

former waren in Cincinnati nach Stallos Einschätzung „auf eine A rt von höherer Bau­

ernfängerei“ hereingefallen.83

Nachdem es Stallo und seinen M itstreitern nicht gelungen war, ein einheitliches Vo­

tum der Deutschamerikaner herbeizuführen und mit Adams ihren Favoriten zu plat­

zieren, zerfiel die Initiative. Das Zwei-Parteien-System war durch eine dritte Kraft jetzt nicht mehr gefährdet. Unter den Deutschamerikanern, denen ihre Machtlosigkeit de­

m onstriert worden war, brachen wieder die bekannten Frontlinien auf, die Differen­

zen zwischen liberalen und sozialistischen Positionen in ökonomischen Fragen, sogar die alten Frontstellungen zwischen Protestanten und Katholiken waren wieder auf dem Tisch.

Selbst die republikanische Presse kommentierte mit deutlichem Aufatmen, dass Greeley auf den Schild gehoben war. Dieses Signal, verbunden mit verunsicherten Stim­

men aus dem Lager der Liberalen Republikaner in einigen Staaten, war eindeutig. War doch dieses Ergebnis des Treffens in Cincinnati auch Ausdruck der fehlenden Ge­

meinsamkeit unter den Reformanhängern und enttäuschte amerikaweit die Erwar­

tungen vieler Reformwilliger.

Der in Baltimore Anfang Juni 1872 von den Demokraten nominierte Greeley84, Anti-Sklaverei-Befürworter und Protektionist, als publizistischer Scharfmacher

ver-81 C.F. Bauer, Herausgeber des „Milwaukee H erald“, wird in einem Nachruf auf Butz (DDP 17.1.1885, S. 36-37) weiter zitiert: „(...) und da saßen wir nun zusammen bei Louis Hoffmann am Washington Park in Cincinnati (...) und suchten einander beim Wein zu trösten, weil uns das Bier so schmählich umgeschüttet worden war. Fritz Hecker aber wollte sich nicht trösten lassen (...) und tobte wie ein Berserker.“ - Körner hielt in seinen Memoiren fest: „I wended my way to Stallo’s house in a sort of perplexed state of mind. As may be imagined, Judge Stallo was grievously disappointed. Free trade was his hobby, and civil reform. Butz and Hecker had quarreled. (...) While thus engaged, Schurz en­

tered the room. He said nothing - but at once sat down before the grand piano (...) and played Cho­

pins funeral march“ (zit. nach Nagler, S. 428).

82 Im Rückblick Mitte September 1872: „Wenn es da Zweifler gab, die nicht wußten, was sie nach Ver­

übung dieses Bubenstücks zu thun hatten, so gehörte ich zu ihnen nicht. Mein Weg lag gerade und offen vor mir. Es fehlte nicht an eifrigen Patrioten, die unmittelbar nach Schluß der Konvention mir ihre Theorien entwickelten betreffs der tiefen metaphysischen und metapolitischen Beziehungen zwi­

schen den ersten und den späteren Phasen der Reformbewegung ( ...) - es gab Philosophen in Fülle, die mir die Chaos-Theorie, die Theorie vom kleineren Uebel (...) und alle die anderen Theorien, die sich seither so glänzend entfaltet haben, auseinander setzten. Es war aber alles vergebens; ich schüt­

telte unwillkürlich den Kopf und schüttele ihn noch immer“ (Reden Nr. 17, S. 314 f, wörtlich bei HAR, S. 39 f).

83 Weil einige „dem Geist dieser Aufgabe untreu wurden, Erfolgspolitik trieben statt Prinzipienpolitik, und daher naturgemäß mit ihren Bestrebungen und Erfolgen noch unter das Niveau der gewöhnli­

chen alten Parteipraxis herabsanken“ (1876, Reden Nr. 18.1, S. 351 f).

84 Für JBS war G. aus der Rückschau „der entschiedenste Befürworter der Satrapisirung des Südens so­

wohl wie der Schutzzöllnerei und überhaupt des ganzen regiererischen Bevormundungssystems“

(1876, Reden Nr. 18.2, S. 376). - Nach HAR „der ausgesprochene Feind jeder Reform, der Verun- glimpfer aller Bürger, die nicht in das republikanische Raubhorn tuteten“ (S. 39). - Die Redaktion des DDP (3.5, 1871, S. 150) übernahm ein Zitat aus dem „Volksblatt“ aus Pittsburgh von Ende Juni 1871; dort hieß es kritisch zu G., „der jetzt mit verschämtem Erröthen und einer Bonhommie“ die

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schrien, war als Verfechter eines Alkoholverbots sowie als Preußenfreund besonders bei vielen Deutschamerikanern nicht geschätzt. Und doch hatte er diese Hürde zu neh­

men gewusst.

Über hundert Delegierte - einer davon war Stallo - versuchten am 20. Juni 1872 in New York Greeleys Durchmarsch mit der Nominierung eines neuen Kandidaten in letzter M inute noch zu verhindern. Schurz, dem jetzt auch noch fehlende Geradlinig­

keit und mangelnder Reformeifer angekreidet wurden und dessen Vorgehen Stallo zu­

nächst noch verteidigt hatte, engagierte sich nicht weiter und trug zum Scheitern die­

ser Initiative bei; mit anderen Deutschamerikanern entschied sich Stallo dann - im Ge­

gensatz zu Schurz - Greeleys W ahlkampf nicht zu unterstützen. Er weigerte sich, denjenigen Reformern beizustehen, die das fatale Bündnis mit Greeley eingegangen und dem eigenen Programm untreu geworden waren. Stallo, „einer der Hauptinitiatoren des Liberal Republican Movement in O hio“ 8\ zog sich enttäuscht und gerade über Schurz’ Verhalten zunehmend verärgert zurück. An den Versammlungen der Libera­

len Republikaner nahm er auch nicht mehr teil, auch nicht an der, die Anfang O kto­

ber 1872 in New York angesetzt war.

Ausdruck dieser von Stallo als äußerst bitter empfundenen Erfahrung ist seine Rede über „Pseudo-Reform“86, die er am 16. September 1872 in St. Louis - sozusagen die politische Heimat von Schurz - mit besonderer Fokussierung auf diesen hielt. Dabei hatte Stallo - einem vor langer Zeit gegebenen Versprechen verpflichtet - ursprüng­

lich ein philosophisches Thema anschneiden wollen.87 Die Ereignisse der letzten M o­

nate trieben ihn derart um, dass er sich veranlasst sah, das Thema zu ändern und sich der Tagesaktualität zuzuwenden.

In seiner bekannt blumenreichen und diesmal besonders scharf formulierten An­

sprache analysierte er die in der Anfangsphase von ihm begrüßte Politik der Missouri- Reformer, die einen akuten Reform-Bedarf ausgemacht hatten, der in der „Forderung einer vollständigen Neugestaltung“ gipfelte. G rant war dabei nur die Personifizierung der nach dem Krieg eingerissenen Missstände. Den fälligen Neubeginn hätten die li­

beralen Republikaner aus Missouri versucht, als sie seinerzeit ihr Programm - also eine „Prinzipienerklärung“ und keine zu nominierende Person - vorlegten. Aber auf dem National-Konvent in Cincinnati88 von Anfang Mai seien alle Pläne und H off­

nungen über den Haufen geworfen worden. Viele Reformer hätten dort ihre G rund­

sätze aufgegeben und seien auf den Grant-Anhänger und Wendehals Greeley herein­

gefallen, der sich mit einer politischen Kehrtwende den Liberalrepublikanern ange­

dient hatte.

Kandidatur für eine Präsidentschaft anpeilt, obwohl G. als Autor einer Geschichte des Bürgerkrieges

„den Deutsch-Amerikanern, die treu zur Union hielten, durchaus nicht die verdiente Gerechtigkeit zu Theil werden läßt und dessen Amerikanismus dabei stark ins Nativistische schillert.“ G. schrieb am 8.05.1872 an Schurz u.a.: „Natürlich bin ich bei der Mehrzahl der Deutschen unbeliebt, nicht so sehr, weil ich Schutzzöllner, als weil ich Temperenzler bin“ (zit. nach Bancroft/Dunning, S. 386).

85 Nagler, S. 433.

86 Reden Nr. 17, S. 305-347.

87 „Es war meine Absicht über Dinge zu reden, die meinem Gedankenleben und meinem Geschmacke näher liegen, als die Politik“ (S. 305).

88 „Ich bin außer Stande, das Resultat der Cincinnati Konvention als Verwirklichung der Ideale, die dem Volk nach den Versprechungen der Reformer vorschwebten, oder auch nur als theilweise Erfüllung der Hoffnungen, die ich im Interesse der Reform gehegt hatte, anzuerkennen“ (S. 346).

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