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Einsatz für Cleveland 1884

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gleitete Stallo im Oktober 1884 in der New Yorker „Staats-Zeitung“ mit zwei Briefen. Weil sein - namentlich nicht genannter - »lieber Freund“ zwischen Blaine und Cleveland schwankte, ging Stallo diesmal ausführlicher auf die Positionen der großen Parteien zur

„Schutzzollfrage“ 133 ein, die ihn seit den 1870er Jahren immer wieder um­

getrieben hatte. Bei Cleveland zögerte sein Briefpartner nämlich deshalb, weil der demokratische Kandidat

»unserer heimischen Industrie Gefahr bringen k ö n n e “ Deshalb ging Stallo daran zu beweisen, „daß die Schutz­

zollpolitik der materiellen Wohlfahrt des Landes nicht zuträglich ist. “ Auch wenn der Schutzzoll weiterhin unter denen einige Anhänger finde, „die sich Demokraten nennen“, neige er dem Kandidaten Cleveland zu. Denn die vom Gegenkandidaten Blaine136 vertretene, vermeintlich erfolgreiche

Abb. 40: Präsident Grover Cleveland, 22. US- Präsident

die Zahl der Generalmajore um einen zu vermindern und den jüngsten unter ihnen (Hancock näm­

lich) von der Liste derselben zu streichen“ (S. 483).

135 Reden Nr. 22.1-2, S. 490-511.

136 Seitenhieb von JBS gegen den auf dem Cincinnati-Wahlkonvent der Republikaner (u.a. von Ingersoll) gelobten B., der „als glänzendes Vorbild sittlicher Reinheit ohne allen Zweifel auch vom Vatermörder bis zum Glanzstiefel als Muster physischer Eleganz vorgeführt werden kann“ (1876, Reden Nr. 18.2, S. 378). B. war nach Grants Abgang „als würdiger Träger des antisüdlichen wie antikatholischen Fa­

natismus ausersehen“ (Reden Nr. 18.5, S. 428), konnte sich aber gegen Hayes als Präsidentschafts­

kandidat der Republikaner nicht durchsetzen. - JBS verschonte B. auch später (1889 für JBS letzte Wochen in Rom sein Dienstvorgesetzter) keineswegs: „Soeben kommt mir ein Brief des republikani­

schen Abgotts Blaine zu Gesicht (...), um das Volk des Nordens zur Aufrechterhaltung des Schutz­

zollsystems anzufeuern“; außerdem wollte B. darin den Nachweis führen, dass „von jeher Rebellion und Opposition gegen den Schutzzoll gleichbedeutend gewesen sei“ (1892, Reden Nr. 23, S. 529 Anm.).

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republikanische Politik eines mehr oder minder unverhohlenen Protektionismus in den vergangenen zwanzig Jahren - „diese schutzzöllnerische Sophisterei“ - sei bei nähe­

rer Betrachtung der ökonomischen Lage eindeutig ein falscher und zudem verhäng­

nisvoller Weg.

Das Für und Wider zur Frage der Zollschranken war alt. Schon 1828 und 1846 waren Gesetze erlassen worden, die Freihändler, W irtschaftsnationalisten und Pro­

tektionisten zufrieden stellten, auch wenn meist der Schutz der heimischen Industrie und der Arbeiter in den Vordergrund gestellt wurde. Die spalterischen Tendenzen im Süden in den ausgehenden 1830er Jahren waren auch vom Bemühen getragen, wirt­

schaftlich eigene Wege zu gehen und die direkte Vermarktung - gerade mit England - zu suchen. Lincoln hatte 1865 zwar die M achtfrage für die Union entschieden; doch die hohen Zölle, im Krieg als Geldquelle gern gesehen, blieben auch danach bestehen und boten immer wieder - zumal in Wahlkampfzeiten - Stoff für Kontroversen.

Den Erlös von M ehreinnahm en durch die Einrichtung von Schutzzöllen - „ein indirekter Diebstahl“ und eine Einschränkung der „Freiheit des Verkehrs durch Will­

kürgesetze“ - hatte Stallo schon im Februar 1872 im Vorfeld der Reform-Versamm- lung in Cincinnati als ökonomischen Unsinn137 und als Verrat am Gemeinwohl so­

wie am Prinzip der Freiheit abqualifiziert - „zum Nachtheil des kleines M annes“ und weil das nach seinem Dafürhalten „im grellsten Widerspruch m it der natürlichen O rd­

nung der D inge“'3* stand. Deshalb wetterte er wieder gegen die Verantwortlichen, die das Desaster Anfang M ai in Cincinnati verursacht hatten und begründete sein Urteil auch an H and der - aus der Cincinnati-Programm herausgeboxten - Schutzzoll- R eform .139

H atten die Demokraten vor dem Krieg versucht, „dem südlichen Sklavenritter- th u m “ Vorschub zu leisten, so halfen die Republikaner jetzt „ein nördliches Indus­

trieritterthum“ zugunsten weniger Reicher und einzelner Industriezweige zu errichten.

Das war in Stallos Augen ein offener M achtm issbrauch140 durch eine Politikerkaste, die einen neuen „Besitzadel“ hervorgebracht hatte, „der für das Volk hundertmal ge­

fährlicher ist, als der Erbadel in den Fürstenländern der alten Welt. “ Solche Entglei­

sungen der M arktw irtschaft141 mussten korrigiert werden, wenn er auch

unerschüt-137 „(...) nicht nur, daß die Wohnung des Farmers in der Prairie besteuert werden soll, um aus dem Er­

trag einigen Holzhändlern eine Prämie zu zahlen für die Verwüstung unserer Wälder, wodurch un­

sere Luft ihrer Feuchtigkeit, unsere Flüsse ihres Wassers, unsere Wiesen ihres Thaus beraubt wer­

den, so daß dies schöne Land bald aufhören wird, ein geeigneter Aufenthaltsort für unsere Kinder zu sein; unser Schutzzollsystem bedeutet (...) volkswirthschaftlichen Widersinn, industriellen Ruin und Empörung gegen die Gesetze der N atur (...)“ (Reden Nr. 17, S. 321).

138 Reden Nr. 16, S. 284.

139 Diese nannte JBS 1876 „die Kriegserklärung gegen die Monopolisten“ (Reden Nr. 18.2, S. 376 f).

140 „(...) eine Macht, welche die Gesetzgebung beeinflußt, die Träger der öffentlichen Gewalt sich dienst­

bar macht, den Parteien ihre Programme diktirt, freihändlerischen Konventionen schutzzöllnerische Kandidaten aufzwingt, überhaupt die politische Intelligenz verwirrt und die politische Thätigkeit lähmt (...)“ (Reden Nr. 17, S. 321).

141 „Märkte, so lautete die orthodoxe liberale Annahme, machten Nationen friedlich, Kriegerkasten überflüssig, Individuen fleißig und unternehmerisch ehrgeizig. Neu im 19. Jahrhundert war die Idee, der M arkt sei ein ,natürlicher’ Mechanismus zur Erzeugung von Reichtum und zur Verteilung von Lebenschancen. Es bedürfe dazu nur des Abbaus hinderlicher Traditionen und des Verzichts der Ob­

rigkeit auf unsachgemäße Eingriffe in natürliche Kreisläufe. (...) Der klassische Liberalismus nahm an, dass jedermann auf Marktanreize begeistert ansprechen werde. (...) Nicht alle Ökonomen in den

Johann Bernard Stallo (1823 -1900) _ ______ 185

terlich an seiner Auffassung festhielt, dass die Freiheit für das Individuum Errungen­

schaft und Verpflichtung zugleich bleiben und auch M aßstab für wirtschaftliches H an­

deln sein musste. Im Blick hatte Stallo außerdem die anonym agierenden Manager monopolartiger Firmen, die zunehmend an die Stelle der Eigentümer-Unternehmer tra­

ten. Im Verein mit einer aufgeblähten, hierarchisch aufgebauten Bürokratie hätten sie die Versklavung der Arbeiter im Sinn.142 Am Ende hätte sich die M acht auf Kosten des Volkes bei wenigen Monopolisten und Kapitalisten mit ihren Sonderinteressen kon­

zentriert.

Bei Arbeitern, Handwerkern und Mittelständlern hingegen stelle sich sozialer Ab­

stieg ein, weil „durch unsere nationale Gesetzgebung das Kapital zum Nachtheil der Arbeit so begünstigt werden soll.“ Denn die vom Bürgerkrieg herrührende Steuerlast habe sich verdoppelt und die Einkünfte seien ungleich verteilt. Dieses aus Stallos Sicht bittere Ergebnis war für keinen zu übersehen: »Man hat die Demokratie ihrer Grund­

sätze entkleidet und den Republikanismus seines sittlichen Gefühls beraubt (...).“

Schlagende Beweise für diese verfehlte Politik gab es aus Stallos Sicht genug; da war etwa die Entlassung des Budget-Kommissars Wells, der als ausgewiesener Ökonom das Schutzzollsystem seiner Parteifreunde in der Regierung kritisierte, woraufhin der Kongress mit seiner Entlassung und der Auflösung des Amtes geantwortet hatte. Au­

ßerdem hatten der republikanisch dominierte Kongress und ein willfähriger Präsident den ausgleichend wirkenden Senator Sumner aus dem auswärtigen Ausschuss ver­

drängt; immer seien anpassungsbereite Parteipolitiker nachgerückt.

Im W ahlkampf von 1880143 hatte Stallo dem späteren Präsidenten Garfield vorge­

worfen, die immer noch erhobenen Schutzzölle - die »gewaltsame gesetzgeberische Be­

lastung oder Zerstörung der Industrie des einen Bürgers zu Gunsten der Industrie ei­

nes andern“ - wider besseres Wissen zu rechtfertigen und fortführen zu wollen. 1883 hatte man sich unter Präsident Arthur ohne große Mühe um eine Reform des Zoll-Sys­

tems bemüht, weil es in der Zoll-Frage eine merkwürdige Übereinstimmung in beiden großen Parteien gab. Viele wollten einfach dieses als probate Waffe im W irtschafts­

krieg gegen England benutzte Instrument nicht so ohne weiteres aus der Hand geben.

Stallo ging deshalb im Wahlkampf von 1884 daran, diesen Programmpunkt der Re­

publikanischen Partei unter die Lupe zu nehmen, der verkündete, dass Schutzzölle im

mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts teilten einen solchen naiven Optimismus“ (Osterham­

mel, S. 1182). - Hier gibt es Berührungspunkte zwischen JBS und Karl Polanyi (1886-1964), den die Untersuchungen zu den Entwicklungen der Industriellen Revolution in England zu einer strikten Ab­

lehnung liberaler Ökonomen in der Nachfolge von Adam Smith und Robert Owen geführt hatten:

Einer ungebremsten, inhumanen Wirtschaftsweise, einem bedingungslosen Kapitalismus war Einhalt zu gebieten. P. glaubte - im Gegensatz zu JBS - allerdings nicht an die Selbstregulierung der Märkte, weil sich das Laissez-faire-Prinzip zu einem „militanten Glaubensbekenntnis“ (S. 189) und „Dogma“

(S. 191) verengt, komplett versagt und seine „Glaubwürdigkeit“ (S. 198) eingebüßt habe. „Anhän­

ger des Wirtschaftsliberalismus haben Amerika als schlüssigen Beweis für die Funktionstüchtigkeit einer Marktwirtschaft herangezogen“ (S. 271) - zu Unrecht, was P. detailliert darzulegen versuchte.

„The great transformation“ allein war geeignet, den Egoismus und die Profitgier des Individuums in einem sozial ausgestalteten Wohlfahrtsstaat abzufedern.

142 „Die Mehrzahl der Arbeiter, in den nördlichen Staaten wenigstens, hat während der letzten zwölf Jahre in den Reihen der Republikaner gekämpft, allein sie hat nicht dafür gekämpft, daß an die Stelle der Negersklaverei im Süden eine Sklaverei aller Arbeiter jedweder Farbe in der ganzen Union tre­

ten soll“ (Reden Nr. 16, S. 286).

143 Reden Nr. 21.2, S. 476.

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Interesse der Arbeiter und der Landwirte seien und zur Verbesserung der Industrie füh­

ren müssten. Nach einer ausführlichen Sichtung der detailliert ausgebreiteten amtli­

chen Zahlen werde indes schnell klar, dass gerade ein Zehntel144 der amerikanischen Industrie-Arbeiter vom Schutzzoll profitiere; für die vielen anderen - vor allem auf dem Lande - und die amerikanischen Verbraucher sei er jedoch eine Zusatzsteuer, die für den allergrößten Teil der Bevölkerung bis zur Verdreifachung der Preise vor allem für Metall- und Baumwollwaren führen musste. Als sich außerdem herausstellte, dass ame­

rikanische Produkte in Europa - wegen der Konkurrenz dort - bis zu einem Drittel billiger waren als im eigenen Land, könne - so Stallos Fazit - das praktizierte Schutz­

zoll-System unmöglich richtig sein.

Der verstärkte Maschineneinsatz in den USA bewirke, dass die Produktivität be­

reits um ein Drittel höher liege als in England; und doch wollten US-Fakrikherrn die höheren Löhne mit Verweis auf die geringen englischen Löhne weiter drücken, ohne die Fakten zu berücksichtigen. Diese Politik verhindere oder erschwere jedenfalls die Einfuhr bestimmter ausländischer W aren.14^ Damit werde auch der Angebot-Nach- frage-Mechanismus zu Lasten der Arbeiter ausgeschaltet. Eine weitere Variante der Lohndrückerei bestehe darin, dass Arbeitskräfte aus Kanada, Böhmen, Polen, Italien, Deutschland und sogar aus China eingesetzt würden, um streikende amerikanische Ar­

beiter zu ersetzen.146

Auch die amerikanischen Farm er147 würden ebenso wenig wie abhängig Beschäf­

tige und Gewerbetreibende durch den Schutzzoll geschützt, sondern zusätzlich emp­

findlich geschädigt. Ihre durch technische Innovationen und verbesserte Infrastruktur gewachsenen Überschüsse - 1881 waren das 40% der Weizenernte - müssten die Far­

mer auf dem Weltmarkt bei schwankenden Erlösen loswerden. Bestimmte Waren des amerikanischen Binnenmarktes jedoch, deren Preise durch den Schutzzoll - in Stallos Augen demnach ein „Raubzoll“ - hochgetrieben wurden, könnten sie nur teuer er­

stehen, weshalb viele von ihnen wegen Überschuldung längst hatten aufgeben müssen.

So stellte sich nach Stallos Untersuchungen auch die dritte Behauptung als falsch heraus, wonach inländische Arbeit, „zu deren Erzeugung Geschick und Intelligenz

er-144 JBS ging von 17,5 Mio Arbeitern in den USA aus (davon die Hälfte in der Landwirtschaft, weitere 4 Mio Dienstboten und Tagelöhner, 1,75 Mio im Handel und Transportwesen, 1,25 Mio Gewerbe­

treibende und deren Hilfskräfte); es blieben 1,75 Mio, die in Bereichen arbeiteten, die vor ausländi­

scher Konkurrenz geschützt werden sollten (Reden Nr. 22.1, S. 492). - 1892 korrigierte JBS die Zahl:

Nach den Forschungen von Professor Laughlin (1878- 83 Dozent in Harvard, danach in Cornell) seien nur 1/17, nach den Angaben des Finanzstaatssekretärs Manning nur 1/20 der Arbeiter in ge­

schützten Industrien beschäftigt (S. 493 Anm.).

145 Weil „(...) das Schutzzollsystem die Konkurrenz der europäischen ,pauper-labor’ nicht nur nicht auf­

hebt, sondern im Gegenteil sie geradezu herbeiführt oder verschärft (S. 495). - „Während die Kon­

kurrenz auf dem Waarenmarkt beseitigt wird, bleibt sie auf dem Arbeitsmarkt bestehen“ (S. 496).

146 Gerade die Folgen des Großbrandes in Chicago vom Oktober 1871 bewiesen die These nachdrück­

lich: „Den Arbeitern war es gesetzlich verboten, für ihre Hütten aus den benachbarten kanadischen Wäldern billiges Holz zu beziehen, aber dem Lumberlord blieb es unbenommen, aus den kanadi­

schen Dörfern sich billige Arbeit kommen zu lassen“ (S. 498). - JBS sprach von diesen Unterneh­

mern als den „Waldverwüstern in Michigan“ (S. 501). Ob hier ein Einfluss des naturbegeisterten Tho­

reau anklingt, muss offen bleiben. Siehe S. 184 Anm. 137.

147 1860-1916 verdoppelten sich die Anbauflächen in den USA sowie die Erträge der Weizen- und Mais- Ernten. Die 1885 gegründete „Farmer alliance“ als Interessenvertretung blieb ohne Breitenwirkung (Adams, S. 111, 119).

Johann Bernard Stallo (1 8 2 3 -1 9 0 0 )_______ 187

forderlich sind“, von diesem Zoll geschützt werde.148 Verteuerte, aus dem Ausland kom­

mende Rohstoffe verhinderten das nämlich oft genug. Stallo hielt also mit Blick auf die Marktkonkurrenz die Kardinaltugend der Marktwirtschaft hoch, wonach die - vom Staat nicht zu behindernden - Marktteilnehmer aus Fehlern lernen müssten; wer sich nicht als anpassungs- und lernfähig erweisen sollte, werde durch die fortschreitende Entwicklung zur Veränderung gezwungen oder in seinem Streben nach Wohlstand scheitern.149

Auch habe das Schutzzoll-System den - in den letzten fünfundzwanzig Jahren zwei­

fellos gestiegenen - Wohlstand gar nicht verursacht. Schon ein kurzer Blick auf die of­

fiziellen Zahlen für die führenden Produktionszweige zeige, dass die sehr produktive Landwirtschaft ohne Schutzzoll weit größere Gewinne hätte machen können. Der früher lukrative Seehandel sei, wenn nicht ruiniert, so doch zumindest erheblich eingebro­

chen.150 Daher würden Reichtümer auf wenige konzentriert, während es vermehrt Armut in den USA gebe; das werde auf republikanischer Seite - wenn auch hinter vorgehal­

tener H and und auch nur von wenigen - durchaus eingestanden, resümierte Stallo.1 31 Im zweiten Brief vom 31. Oktober 1884 wandte sich Stallo der moralphilosophi­

schen Seite der Schutzzoll-Frage zu. Eine ausführliche Herleitung aus Philosophie, Staatsrechtslehre und Politik-Praxis ersparte er indes seinem Briefpartner und unter­

strich, dass sich sein Standpunkt dazu seit seinen Erörterungen und Veröffentlichun­

gen132 der 1870er Jahre auch nicht geändert habe. Nach wie vor hielt er die Selbstre­

gierung, die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und das Streben nach dem öffent­

lichen Wohl für die tragenden Säulen der amerikanischen Verfassung. Deshalb musste es aus seiner Sicht auch die unbedingte Pflicht des Staatsbürgers sein und bleiben, Wi­

derspruch einzulegen gegen jegliche Übergriffe des Staates auf die freie Selbstbestim­

mung des Einzelnen. Ein solcher Verstoß liege vor, wenn Steuern der Bevorzugung von wenigen Profiteuren zu Lasten der Staatskasse dienten. Aus diesem Grund konnten die

148 „Die Wahrheit ist, daß die ganze Tendenz des Schutzzolls, auch in den geschütztesten Industriezweigen, darauf hinausläuft, die geistige Thätigkeit der Fabrikanten und ihrer Arbeiter zu lähmen, und zwar eben dadurch, daß der Schutzzoll die ausländische Konkurrenz aufhebt, welche den inländischen Konkur­

renten zwingen würde, stets auf die Vervollkommnung seiner Produktionsmethoden, sowie auf die Ver­

besserung seiner Werkzeuge bedacht zu sein und mit den Fortschritten der Technik Schritt zu halten. Der Schutzzoll ist in seinem Wesen eine Prämie auf die Rohheit und Indolenz“ (Reden Nr. 22.1, S. 501).

149 Schumpeter betonte, dass der Kapitalismus ständig alte Strukturen zerstört „und unaufhörlich neue schafft. Dieser Prozeß der ,schöpferischen Zerstörung’ ist das für den Kapitalismus wesentliche Fak­

tum “ (S. 137); dabei werde lediglich die Beurteilung der wirtschaftlichen Leistung und kein morali­

sches Urteil intendiert. Befürworter des Schutzzolls bezeichnete S. als „wirtschaftliche Royalisten“

(S. 150 Anm. 7).

150 Diesen Tatbestand hat Stallo dann 1892 noch einmal illustriert; er zitierte dazu - geradezu genüsslich - aus einer pennsylvanischen Zeitschrift die zynische Rechtfertigung der Entgleisung des Schutzzoll- Systems durch den ganz offenbar den Republikanern nahestehenden Autor: „(...) die Zerstörung der amerikanischen Schifffahrt bedeute zwar für den Rheder einen erheblichen Verlust, aber für diesen Ver­

lust werde das amerikanische Volk mehr als entschädigt durch einen unberechenbaren moralischen Ge­

winn. Es sei nämlich allbekannt, daß Matrosen, und Seeleute überhaupt, in der Regel einen sehr un­

sittlichen Lebenswandel führen, und es müsse daher dem republikanischen Kongreß als hohes Verdienst angerechnet werden, eine große Anzahl amerikanischer Bürger einem so demoralisirenden Beruf ent­

fremdet und sie auf Industriegebiete gedrängt zu haben, die für die Aufrechterhaltung der christlichen Moral die höchstmöglichen Garantien bieten!“ (Reden Nr. 23, S. 521).

151 „Die angebliche Prosperität des Landes imponirt dem gedankenlosen Beobachter eben durch diese Kontraste“ (Reden Nr. 22.1, S. 504).

152 Er bezieht sich auf die Beiträge Nr. 8 (1866), 7 (1870), 17 (1872) und 18 (1876).

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in letzter Zeit vorgekommenen staatlichen Eingriffe in den M arkt oder in Unterneh­

mensentscheidungen nur Schaden angerichtet haben und mussten demnach falsch sein.

An keinem Beispiel werde das deutlicher als am Umgang des Kongresses - „das ge­

fährlichste H azardinstitut“ - mit dem Schutzzoll; dort säße eine Ansammlung von par­

tei- und lobbygesteuerten, korrupten Individuen mit geringem Können und noch we­

niger ökonomischem Wissen. Von diesem Kongress gemachte Gesetze verschleuder­

ten zugunsten weniger Nutznießer die von den Bürgern aufgebrachten Steuergelder, die angeblich zum Schutz der heimischen Industrie gebraucht w ürden.1x3 Abgeordnete im Kongress fühlten sich immer nur den Interessen der Industrie ihres Wahlkreises verpflichtet und waren ständig dem Einfluss von Lobbyisten - die „Aasgeier der Kor­

ru p tio n ' - ausgesetzt; so werde Regierungspolitik eine „Gaunerpraxis (...) für ego­

istische Privatzwecke", weil die Drahtzieher „den K am pf der Prinzipien in einen K am pf der materiellen Interessen verwandeln.“ Wähler würden mit Scheinargumen­

ten abgelenkt, Arbeiter unter Druck gesetzt, das Betriebs- und Geschäftsleben durch­

einander gebracht. Die Klagen von Fabrikherren gegen Eingriffsversuche der Ge­

werkschaften in ihre Entscheidungen waren für Stallo alles andere als glaubwürdig.154 Clevelands Jahresbotschaft von 1888 zeigte dann, dass selbst die Senkung der Zoll­

tarife - begleitet von einer großzügig finanzierten Kampagne der Industriel3d zugunsten der Republikanischen Opposition - misslang. Das verhagelte Cleveland erst einmal die zweite Amtszeit. Doch sein Nachfolger Harrison erhielt für das 1890 erlassene Mc-Kin- ley-Gesetz Gegenwind, weil die systematische staatliche Exportförderung die Lebens­

haltungskosten der Bürger in die Höhe trieb.

Das sollte Cleveland 1892 zu seiner zweiten Amtsperiode verhelfen. Im Wahlkampf von 1892156 hat sich dann gezeigt, dass die wieder hochgespielte Schutzzoll-Frage längst nicht ausgestanden war; aus Stallos Sicht hatte das seit langem ungelöste Problem nichts von seiner Brisanz eingebüßt. Stallo rechnete deswegen mit dem Befürworter, dem um die Wiederwahl bemühten Präsidenten Harrison, scharf ab. Von den Wahlkampf-Reden - und besonders verwerflich - bis hinein in die Schulbücher werde dazu eine „Masse Blödsinn" verzapft.157 Den Wählern sollte eingeredet werden, dass mit Hilfe von

Steu-153 Ähnliche schädliche Wirkungen werden „der Spekulation und dem Börsenspiel durch die legislati­

ven Eingriffe in die natürlichen Produktionsverhältnisse des Landes“ (Reden Nr. 22.2, S. 510) zu­

geschrieben.

154 „(...) dem weitaus größten Theil der Bewohner dieses Landes wird zwangsweise ein Theil seines Ei­

genthums weggenommen und an einen anderen kleinen Theil übertragen, unter dem Vorwand, daß die so erhobenen Steuern dennoch indirekt dem ganzen Volk zu Gute kommen. Wie unterscheidet sich das von der von den Kommunisten vorgeschlagenen Prozedur einer ähnlichen Güterübertragung im direkten Interesse des ganzen Volkes? Wenn ich zwischen der schutzzöllnerischen und kommunisti­

schen Prozedur zu wählen hätte, würde ich unbedingt die letztere vorziehen, und zwar nicht nur, weil bei dieser die Uebertragung wenigstens von den mehr Besitzenden zu den weniger Besitzenden statt­

finden würde, sondern auch, weil ich sicher wäre, daß das zu übertragende Eigenthum auch wirklich in den Besitz der angeblichen Benefizianten der Uebertragung überginge“ (S. 511).

155 Etges (S. 322) führt auf: Industrial League of America (1880), American Protective Tariff League (1885), Home Market Club, Boston (1887).

156 1890 existierte eine lange Liste von Gütern, auf die 50 % ihres Wertes bei der Einfuhr zu entrichten waren (Adams, S. 108). - Siehe unten Kap. 6.3.3.

157 JBS zitierte aus dem in Massachusetts und Pennsylvania zugelassenen Schulbuch (H. Scudder, His­

tory of the United Staates (...) for the use of schools and academies), in dem der Schutzzoll als den Ausländern auferlegte und den Amerikanern zugute kommende Steuer bezeichnet wurde. In spe­

ziellen Vorträgen für Farmer versuche ,The Home Market Club’ „(...) nicht nur den südlichen

Ne-Johann Bernard Stallo (1823-1900) 189

ern und Beschränkungen des Güterverkehrs Wohlstand entstehe. Abgesehen davon, dass der Staat weder das Recht auf derartige Interventionen habe, noch die Maßnahmen dem Schutz der Mehrheit dienten, brächten die Schutzzölle nur den Produzenten auf ihrem heimischen M arkt Zuwächse - und das in einer Höhe von bis zu 30 % .138

Stallo blieb in dieser Frage also sich selbst treu und auch seinem Vorbild Jefferson;

dieser war sich sicher gewesen, dass eine ungleiche Einkommensverteilung unbedingt niedrig gehalten werden musste, um an der Demokratie keinen Schaden anzurichten.

Außerdem herrsche - so ergänzte Stallo - nun einmal eine von interessierter Seite gewollte Begriffsverwirrung beim Norm albürger; aber Staat und Regierung139 seien nun einmal kein „mythisches Wesen von unerschöpflicher Weisheit, Güte und M acht.“

Wie gerade an der Schutzzoll-Frage ablesbar sei, verkörpere der Kongress160 inzwischen realiter die amerikanische Regierung. Am Beispiel der Zuckerindustrie zeige sich, wie die Mehrheit belastet werde; „geschützt“ würden unter Aufbietung einer riesigen, kost­

spieligen „Verwaltungsmaschine“ von Zollbeamten, -häusern und -schiffen nur we­

nige Industrielle.

Präsident Harrison habe in seinem in Minneapolis verabschiedeten Programm für die Wiederwahl so getan, als ob der Schutzzoll zum Ausgleich zwischen europäischen und amerikanischen Löhnen führen könne; in Wirklichkeit würden Begriffe wie Ar­

beitslohn und Arbeitskosten bewusst vermischt; selbst die Transportkosten der Euro­

päer würden außer Acht gelassen - was mit den Forschungen des deutsch-amerikani­

schen Statistikers Schönhof hinlänglich zu belegen sei.161

Nachdem in Clevelands Regierungszeit Überschüsse auf Grund der ohnehin hohen Einfuhrzölle in einer Höhe von jährlich bis zu 100 Millionen Dollar erwirtschaftet wor­

den waren, wurde vom Nachfolger der Schutzzoll nicht etwa - wie noch auf den O p­

positionsbänken gefordert - abgeschafft, sondern mit Hilfe des McKinley-Gesetzes 1890 erhöht. Als Begründung diente nicht mehr der Verweis auf ein notwendiges Steu­

ereinkommen, sondern jetzt argumentierte man mit dem sattsam bekannten Schein­

argument des erforderlichen Ausschlusses der Ausländer vom amerikanischen M arkt.

Doch ab 1891 war dieser M arkt Beute weniger Trusts162, die die inneramerikani­

sche Konkurrenz zunehmend ausschalteten und schnell über zwei Drittel des Be­

gem, sondern auch den unwissenden Kaukasiern des Nordwestens die Segnungen einer höheren Bil­

dung angedeihen zu lassen“ (Reden Nr. 23, S. 513).

158 „Daß die Bewohner eines Landes ihren Gesammtwohlstand durch die Beschränkung oder vollstän­

dige Zerstörung ihres auswärtigen Verkehrs und die dadurch bewerkstelligte Erhöhung der Preise aller Lebensbedürfnisse heben - mit anderen Worten, daß sie sich durch gegenseitige Besteuerung gleichmäßig bereichern können, ist ein Satz, bei dem jedem einigermaßen verständigen Menschen die Haare zu Berge stehen“ (Reden Nr. 23, S. 514).

159 Zur Unterscheidung von rechenschaftspflichtigem „government“ (Bundesregierung) und den ziem­

lich unabhängigen „States“ (Bundesstaaten): Osterhammel, S. 866 f.

160 „(...) in der Regel einfach ein Synedrium mittelmäßiger Politiker, deren Kollektivweisheit schon da­

rum unvermeidlich unter das Niveau der allgemeinen Volksintelligenz herabsinkt, weil sie in den meisten Fällen nicht die Abgeordneten des Volks sind, sondern die Sendlinge eines verhältnismäßig kleinen, geistig wie moralisch rohen Theil des Volks, nämlich der Maschinen- und Beutepolitiker“

(Reden Nr. 23, S. 516).

161 Auch die Forschungen von C. Sumner (Yale) würden von den Republikanern bewusst ignoriert.

162 Schon um 1860 besaßen 10 % der US-Bevölkerung bereits die Hälfte des Volksvermögens (Oster­

hammel, S. 325). Diese Tendenz setzte sich also ungebremst fort. So auch Piketty, S. 386. - 1882 hatte John D. Rockefeller mit „Standard Oil Company“ den ersten Trust geschaffen, der bis zum Sher­

man Anti-Trust Act den Binnenmarkt (Quellen, Raffinerien, Pipelines, Tankerflotten,

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