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Vor dem Beginn der Archivbenutzung muß eine genealogische Ubersicht des bereits Bekannten dem Archiv vorgelegt werden, da nur hiernach

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die Forschung zweckentsprechend geleitet werden kann.

Die Forschung hat nicht aufs Geratewohl hin hier oder dort einzusetzen, 4.

sondern kann nur dann auf Unterstützung durch die Archive rechnen, wenn sie systematisch von den jetzt lebenden oder den zuletzt bekannten Familiengliedern nach deren Vorfahren zu gerichtet ist, ohne eigenen Vermutungen oder Familienüberlieferungen ungebührlichen Einfluß zu gestatten. Insbesondere müssen die Archive die so oft erstrebten An¬

knüpfungen an notorisch bereits ausgestorbene Familien, wenn nicht

zwingende Beweise ihrer Möglichkeit erbracht werden, von vornherein

abweisen.

5.Da die Familienforschung ihrem Hauptzwecke nach privaten Interessen

gewidmet ist, so muß ihre Unterstützung durch die Archive gegenüber

den amtlichen oder den rein wissenschaftlichen Aufgaben der Archive erforderlichen Falles zurücktreten. Die Archive können sich daher dieser Unterstützung amtlich nur insoweit widmen, als Arbeitskräfte und

Arbeitszeit es zulassen. Die weitere Förderung der Familienforschung

durch einzelne Archivbeamte muß deren persönlicher Bereitwilligkeit und

privater, außeramtlicher Tätigkeit überlassen bleiben.

In der außerordentlich lebhaften Aussprache, die sich anschloß, machte

sich irgendeine Gegenströmung gegen die in den Hauptfragen nicht zu weit

voneinander abweichenden Auffassungen beider Berichterstatter nicht geltend, wohl aber wurde seitens der Vorsteher der Staatsarchive in Kopenhagen und Hamburg ausgesprochen, daß sie den genealogischen Forschern noch in er¬

heblich höherem Maße entgegenkämen. Eine endgültige Stellungnahme des Archivtags zu den angeregten Fragen wurde bis zur nächsten Tagung *) verschoben.

In der Versammlung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts¬

und Altertumsvereine sprach am folgenden Tage vor den Vereinigten Ab¬

teilungen Professor von Zwiedineck=Südenhorst (Graz) über „Neue

Methoden genealogischer Forschung in Osterreich“ Die „Deutschen

Geschichtsblätter' (7. Bd., S. 76—77) berichten darüber:

Redner bezeichnete die Familiengeschichte als einen grundlegenden Teil

*) Der sechste deutsche Archivtag findet Ende September 1906 in Wien statt.

der Gesellschaftsgeschichte und betonte, daß ihr die Forschung immer näher

treten müsse. Welche Probleme in dieser Richtung der Lösung harren, läßt

sich im einzelnen heute noch gar nicht übersehen, aber es steht außer Zweifel,

daß der Erkenntnis der menschlichen Entwickelung durch den Nachweis des Aufstieges und des Verfalles der Familien und Geschlechter ganz neue Pfade eröffnet werden. Deshalb wird es aber jetzt die Aufgabe der Genealogie,

die sich bisher nur um Geburts- und Sterbetage, Vermählungen, Adels- und

Titelverleihungen zu kümmern gewohnt war, das Material zur Herstellung von Familiengeschichten in dem angedeuteten Sinne herbeizuschaffen und zugleich eine große Menge von Familien in gleicher Weise zu behandeln, nicht mehr immer nur einzelne, die besonders hervorragen oder den Genea¬

logen infolge persönlicher Umstände besonders interessieren. Noch schwieriger

als bei anderen Forschungen ist zurzeit bei genealogischen die Beschaffung

des Urmaterials, und deshalb verdienen alle Hilfsmittel, die diesem Zwecke dienen, ganz besondere Aufmerksamkeit. Als eine derartige österreichische

Veröffentlichung verdient eine ganz eigenartige Arbeit genannt zu werden, nämlich: „Der Adel in den Matriken der Grafschaft Görz und Gradisca““

herausgegeben von Ludwig Schiviz von Schivizhoffen (Görz 1904, Selbst¬

verlag des Verfassers, Druck von Karl Gerolds Sohn in Wien I, Barbara¬

gasse Nr. 2, 510 S. 4º. Im Jahre 1905 ist dann ein gerade solches Werk

über den Adel in Krain erschienen: „Der Adel in den Matriken des Herzog¬

tums Krain“, herausgegeben von Ludwig Schiviz von Schivizhoffen in Görz

(Görz 1905, Druck der „Goriska Tiskarna“', A. Gabrscek in Görz, Selbst¬

verlag des Verfassers, 504 S. 4º).

In dem Umfange wie hier sind wohl noch niemals die Kirchenbücher ganzer Länder inhaltlich ausgebeutet worden, denn der Bearbeiter ist, von den geistlichen Ordinariaten unterstützt, von Pfarrei zu Pfarrei gezogen und

hat alle adlige Personen betreffenden Einträge, so wie er sie fand, sorgfältig

abgeschrieben und im Druck der Offentlichkeit vorgelegt. Die Arbeit wurde in Görz=Gradisca dadurch etwas erleichtert, daß wenigstens seit 1835 Dupli¬

kate der Pfarrmatriken bei den Ordinariaten ruhen, so daß also von dieser Zeit an die Durchsicht an den Sitzen der Ordinariate, in Görz und Triest, erfolgen konnte. Wie der Herausgeber angibt, enthält der genannte Band rund 20000 Kirchenbüchern entnommene Einzeldaten, und für Krain dürfte die Zahl ungefähr dieselbe sein. Außerordentlich eingehende Register erleichtern die Benutzung beider Bände und das Auffinden einzelner Daten, geben aber auch negativ die Gewähr, daß Personen, die das Register nicht nennt, im

Texte tatsächlich nicht erwähnt werden. Die mutige Tat eines einzigen, eines durchaus nicht mit Glücksgütern gesegneten pensionierten Beamten,

hat hier für einen ziemlich fernen Landesteil etwas geleistet, was zur Nach¬

eiferung geradezu herausfordert.

Einen noch wesentlicheren Schritt nach vorwärts auf der Bahn familien¬

geschichtlicher Forschung stellt ein in seinem ersten Jahrgange (1905) vor¬

liegendes Werk dar, welches, in seinem Außeren durchaus den Gothaischen Genealogischen Taschenbüchern nachgebildet, den Titel trägt: „Genealogisches

Taschenbuch der adligen Häuser Osterreichs“ (Wien, Otto Maaß' Söhne,

655 S. 16º, Preis 10,50 Kronen). Es ist bei der großen Zahl der dem sogenannten niederen Adel angehörigen Familien selbstverständlich, daß un¬

möglich alle Familien auf einmal behandelt werden können und daß dann,

wie es bei den fürstlichen Häusern geschieht, jedes Jahr eine neue Auflage unter Berücksichtigung der etwaigen Veränderungen im Personenstande er¬

scheint. Es handelt sich vielmehr darum und genügt vollständig, wenn zunächst möglichst jede adlige Familie in ihrer Entwickelung einmal vor¬

geführt wird, und dazu ist das neue österreichische Taschenbuch gegründet worden, welches sachlich das reichsdeutsche, österreichische Familien aus¬

schließende, „Gothaische Genealogische Taschenbuch der adligen Häuser“ (seit 1900) ergänzt. Die Kosten der Drucklegung hat völlig der leistungsfähige Verlag übernommen, der dafür das Recht besitzt, dem Taschenbuch einen beliebigen Annoncenanhang anzufügen. Die Redaktion des genealogischen

Teiles besorgt ein Redaktionskomitee, an dessen Spitze Geheimer Rat Graf

von Pettenegg steht, während der Staatsarchivar und zugleich Ahnen¬

probenexaminator Alfred Ritter Anthony von Siegenfeld die hauptsäch¬

lichste Redaktionsarbeit leistet. Die einzelnen Familien senden das über sie bekannte Material der Redaktion ein, und zwar erwachsen dem Einsender dadurch keinerlei Kosten. Die Redaktion unterzieht die Vorlagen einer

scharfen Prüfung und gestaltet das geschichtliche und genealogische Material

zu einem möglichst abgerundeten Bilde; zugleich wird der Versuch gemacht, die in dem beigebrachten Material klaffenden Lücken nach Möglichkeit zu

füllen. Ein besonders breiter Raum ist der Familiengeschichte gewidmet,

und das bedeutet einen großen Fortschritt. Bei der Mehrzahl der 172 im vorliegenden Bande beschriebenen Familien ist es möglich gewesen, eine aus¬

führliche Schilderung ihres Ursprungs und Werdegangs auf Grund

archivalischen Quellenmaterials vorauszuschicken, und dadurch wird die Darstellung ein Stück österreichischer Kulturgeschichte und ein Zeugnis der aufsteigenden Klassenbewegung. Denn über den Zeitpunkt des Adelserwerbs zurückgreifend geht die Schilderung von der vielfach weit interessanteren Geschichte der Familie im Bürger- und Bauernstand aus und zeigt dem Leser die Patrizier der Arbeit auf den vielverzweigten Gebieten menschlicher

Tätigkeit in ihren Mühen und in ihren Erfolgen. Das sozialgeschichtlich

Wichtigste hierbei ist die Feststellung, durch welche Leistungen die einzelnen

Personen sich derartig aus der Masse heraushoben, daß sie der Adelsverleihung

würdig erschienen. An einzelnen besonders charakteristischen Erscheinungen

schilderte der Redner gerade diesen Vorgang. Daß sich eine Menge Be¬

ziehungen zu reichsdeutschen Familien finden, braucht kaum hervorgehoben zu werden, wie andererseits merkwürdig viel aus der Ferne eingewanderte Personen zu Stammvätern jetzt blühender Adelsgeschlechter geworden sind:

die Familie v. Fries z. B. stammt aus Augsburg und kam dadurch nach Osterreich, daß Johann Frieß — ein Enkel des würzburgischen Chronisten

Lorenz Frieß — 1599 als bischöflich bambergischer Beamter zur Verwaltung

der kärntnischen Besitzungen des Stifts nach Wolfsberg in Unterkärnten übersiedelte. Auch dieses neue Taschenbuch des österreichischen Adels verdient die größte allgemeine Beachtung und Benutzung!

Genealogie als Wissenschaft.

Von

Dr. Armin Tille.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben die althergebrachten

Wissenschaften fast durchweg das früher ihnen zugewiesene Arbeitsgebiet er¬

weitert, aber gleichzeitig haben sich die einzelnen Wissenszweige angesichts des täglich wachsenden Forschungsmaterials gespalten, und so sind eine Menge Sonderwissenschaften entstanden. Sie besitzen zwar mit ver¬

schiedenen benachbarten Wissenszweigen enge Fühlung, aber als Spezialfächer

erscheinen sie selbständig und erfreuen sich als solche allgemeiner Anerkennung.

In der nach meiner Meinung unberechtigten, aber häufig zu vernehmenden Klage über das Spezialistentum in der Wissenschaft kommt dies deutlich zum Ausdruck, wenn auch in mißverständlichem Sinne. Denn davon ist ja jeder wissenschaftliche Arbeiter überzeugt, daß sein Spezialgebiet nur ein kleines Bruchstück des Ganzen darstellt, daß es alle andern Wissenschaften zur Vor¬

aussetzung hat und ohne sie gar nicht denkbar ist. In jeder Stunde kommt ihm das aufs neue zum Bewußtsein, und insofern ist gerade das wissenschaft¬

liche Spezialistentum die Ursache davon, daß die moderne Wissenschaft der Universalität sonahe gekommen ist wie nie zuvor. Heute ist alle Welt davon durchdrungen, daß die Wissenschaft eine Einheit ist und daß lediglich die Un¬

zulänglichkeit alles Menschlichen die Zerlegung des gesamten Stoffes in Sonder¬

wissenschaften, deren jede die Heranbildung von Fachleuten verlangt, veranlaßt,

ja gebieterisch fordert, wenn etwas geleistet werden soll.

Wenn eine derartige Uberzeugung herrscht, dann wird es für jeden, der

sich mit einem bestimmten Wissenszweige beschäftigt, zur unabweisbaren Pflicht,

sich darüber Klarheit zu verschaffen, zu welchen anderen Wissenschaften die

seinige in besonders nahen Beziehungen steht. Und diese Frage möchte

ich im folgenden behandeln hinsichtlich des Wissenszweiges, den unsre

Vereinigung pflegt, hinsichtlich der Gencalogie. Freilich handelt es sich dabei

um ein außerordentlich großes Gebiet, das erschöpfend zu behandeln, Ort und Zeit nicht gestatten. Es ist also, wie ich betonen muß, nicht meine Absicht zu erörtern, worin das Wesen der wissenschaftlichen Genealogie*) besteht,

*) Damit hat sich knapp, aber doch erschöpfend Kekule von Stradonitz in dem Auf¬

satze „Wissenschaftliche Genealogie als Lehrfach“' (im 1. Hefte dieser Mitteilungen, S. 23—26;

ogl. dazu oben S. 12—16) beschäftigt. Denn wie einerseits eine Wissenschaft erst bis zu einem

sondern ich möchte darlegen, welche Stellung der Genealogie in dem

großen Gebäude der Wissenschaften zukommt, wie sie sich zu den übrigen Sonderwissenschaften verhält oder verhalten sollte und welche Aufgaben daraus denen erwachsen, die sich als Vertreter der wissenschaftlichen Genealogie

betrachten.

Die Genealogie — ein deutsches Wort, welches den Begriff völlig deckt,

gibt es nicht, und deshalb wird wie bei der Bezeichnung vieler Wissenschaften auch hier der fremdsprachliche Ausdruck fernerhin in Anwendung kommen müssen — wird von jeher unter den sogenannten „Hilfswissenschaften“ der Geschichte aufgezählt. So verfährt auch noch Bernheim in seinem „Lehrbuch der historischen Methode“' (1903), S. 282, aber was dieser belesene und be¬

währte Forscher dort und an andern Stellen darüber sagt, wird trotzdem der Bedeutung der Genealogie für die Geschichtsforschung so wenig gerecht, daß durch seine Ausführungen nur das bestätigt wird, was wir auch sonst be¬

obachten können, nämlich daß die Geschichtsforscher von Fach, und selbst die

Vertreter der sogenannten „geschichtlichen Hilfswissenschaften“,) höchstens ganz

gewissen Grade ausgebildet sein muß, ehe sie zum Unterrichtsgegenstande werden kann, so ist andererseits der Wissenschaft als solcher nichts in dem Maße förderlich wie gerade die Ein¬

beziehung in den höheren Unterricht. Das einschlägige Material ist immerhin schon ziemlich groß: neben dem noch zu nennenden „Lehrbuch“' von Ottokar Lorenz sind vor allem die

„Ausgewählten Aufsätze“ von Kekule von Stradonitz (Berlin, Karl Heymann 1905) zu nennen, um von speziellen Arbeiten ganz abzusehen. Nachdem Lorenz die großen Zusammen¬

hänge, die zwischen der Familienkunde und den übrigen Wissenschaften bestehen, aufgedeckt hat, sind namentlich die Vertreter der naturwissenschaftlichen Soziologie von ihrem Standpunkte aus für die Pflege der Familiengeschichte eingetreten, weil sie erst für ihre Arbeiten die unentbehrliche Grundlage liefert. Dahin gehören eine Reihe Arbeiten, die in der von Ludwig Woltmann (Eisenach) seit 1902 herausgegebenen „Politisch-anthropologischen Revue“ (Eisenach, Thüringische Verlagsanstalt) erschienen sind. Woltmann selbst hat sich in seiner „Politischen Anthropologie“ (daselbst 1903), S. 74—75 über den Wert genealogischer Forschungen bezüglich der wichtigen Frage nach der Vererbung geäußert. Aber er steht durch¬

aus nicht allein: seit 190¼ gibt Alfred Ploetz (Berlin) das „Archiv für Rassen- und Gesell¬

schaftsbiologie“ (Verlag der Archivgesellschaft in Berlin SW 12, Wilhelmstr. 42) heraus, aus dessen reichem, in das Genealogische einschlägigen Inhalt nur besonders auf die Arbeit von Grober über die „Bedeutung der Ahnentafel für die biologische Erblichkeitsforschung“ (. Jahrg., S. 661—681) hingewiesen sei. Es handelt sich hierbei um Außerungen einer mächtigen Be¬

wegung, die eine wissenschaftliche allseitige Erforschung des Gesellschaftslebens auf biologischer Grundlage bezweckt. In den Dienst dieser Bewegung muß sich die wissenschaft¬

liche Genealogie stellen, wennsie ihre Daseinsberechtigung erweisen will. Vgl. dazu den Aufsatz „Familienforschung“ in den von mir herausgegebenen „Deutschen Geschichtsblättern“, 7. Bd., S. 21—26.

*) In Wirklichkeit werden als „Geschichtliche Hilfswissenschaften“ lediglich Schriftkunde (Paläographie), Urkundenlehre (Diplomatik) und Lehre von der Zeitrechnung (Chrono¬

logie) betrieben, während Siegel-, Wappen- und Münzkunde, auch Geographie geradeso wie die Genealogie regelmäßig mit aufgezählt, aber so gut wie nie wirklich im akademischen Unterricht behandelt werden.

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nebenbei, meist aber gar nicht, der Genealogie gedenken, ja über deren Wesen

und Aufgaben überhaupt nicht oder falsch unterrichtet sind. Die einfache

Feststellung von Familienzusammenhängen, die der Geschichtsforscher natürlich

genau so wie andre Tatsachen gelegentlich ermitteln muß, und deren Ermittlung bekanntlich nur mit Anwendung der von der Geschichtsforschung ausgebildeten

Kunstgriffe vor sich gehen kann, hat mit der Genealogie nur so viel zu tun

wie die Erwähnung einer Schlacht, als eines geschichtlichen Ereignisses, mit der Strategie; in beiden Fällen pflegen bis zur Stunde die Geschichtsforscher nicht über die einfache Feststellung der Tatsachen hinauszugehn, ja sie ver¬

schmähen es beinahe sämtlich, sich auch nur die Ergebnisse der Sonderwissen¬

schaften, Genealogie oder Strategie, für ihre Zwecke nutbar zu machen. In Bezug auf erstere hat grundsätzlich nur der 1903 verstorbene Ottokar Lorenz

eine Ausnahme gemacht, indem er in seinem „Lehrbuch der gesamten wissen¬

schaftlichen Genealogie“' (Berlin 1898) diese Wissenschaft als eine selbständige neben der Geschichte stehende Sozialwissenschaft betrachtet, aber er hat

unter den zünftigen Geschichtsforschern keine Nachfolger gefunden. In der Praxis

haben die Biographen einzelner Personen mit mehr oder weniger Geschick die

Abstammung ihres Helden benußt, um dessen Persönlichkeit dem Verständnis näher zu bringen, denn das steht außer Frage: jede Person ist in ihrem ganzen Wesen abhängig von zwei Elementen, erstens von ihrer

natürlichen Förperlichen und geistigen Beschaffenheit und zweitens von den Einflüssen, die während des Lebens, namentlich in der

Erziehungszeit, auf sie ausgeübt werden. Es ist durchaus unbillig, die

Erziehungseinflüsse von vorn herein gegenüber dem Familienerbe zu überschätzen,

nur weil wir erstere leichter festzustellen vermögen, aber tatsächlich ist bis jetzt eine Ausnutzung der genealogischen Tatsachen in Biographieen noch etwas sehr Seltenes. Wenn sich die Biographen überhaupt etwas näher mit den Vorfahren

ihres Helden beschäftigen, begnügen sie sich in der Regel mit der Feststellung

weniger Tatsachen, ohne sie im weiteren für ihre Zwecke nußbar zu machen, aber auch ohne das Bestreben, die Persönlichkeiten der Vorfahren ihres Helden vollständig zu erfassen. Darin gelangt dann die genealogische Unbildung zu beredtem Ausdruck: das in jeder Person verkörperte Familienerbe bleibt tatsächlich

unberücksichtigt.

Die Genealogie steht also heute nicht im Range einer geschichtlichen Hilfs¬

wissenschaft, und zwar, wie ich glaube, ganz mit Recht. Der Begriff der geschichtlichen Hilfswissenschaften ist überhaupt wenig klar bestimmt; denn es werden lediglich gewohnheitsgemäß ohne zwingende innere Gründe einige Sonderwissenschaften mehr oder weniger willkürlich als dienende Hilfskräfte der Geschichtsforschung hingestellt, während mit dem gleichen Rechte dasselbe noch von recht vielen anderen Disziplinen behauptet werden könnte. Uberdies ist nicht zu leugnen und wird tatsächlich nicht geleugnet, daß alle jene Wissens¬

zweige, die als geschichtliche Hilfswissenschaften in Betracht kommen, auch zu andern Wissenschaften in einem ganz ähnlichen Verhältnis stehen und außer¬

dem auch an sich beachtliche Größen innerhalb der wissenschaftlichen Welt darstellen. Als solche werden sie um ihrer selbst willen getrieben und sind

selbständig so gut wie jede andre Sonderwissenschaft; denn für das moderne

System der Wissenschaften ist es durchaus gleichgültig, von welcher Seite

— geschichtlich betrachtet — tatsächlich ein Wissenszweig zuerst wissen¬

her

schaftlich angebaut worden ist. Für denjenigen, der sich beruflich oder vorzugs¬

weise mit der Genealogie beschäftigt, ist sie eine selbständige Wissenschaft,

und alle andern Forschungsgebiete, deren Ergebnisse für ihre Zwecke zu Hilfe genommen werden müssen, sind für einen solchen Forscher nichts anderes als genealogische Hilfswissenschaften, mögen diese auch Medizin, Ethnologie, Geo¬

graphie, politische oder Kulturgeschichte heißen. Trotdem wird es niemandem einfallen zu behaupten, diese alle seien ausschließlich Hilfswissenschaften

der Genealogie. Durch diese Uberlegung gewinnen wir das Ergebnis: es ist

unstatthaft und irreführend, in der Genealogie lediglich eine Hilfsdisziplin der Geschichtsforschung sehen zu wollen. Die Genealogie ist vielmehr eine von den vielen hunderten Sonder¬

wissenschaften, deren keine für sich allein, sondern nur in Ver¬

bindung mit vielen andern gleichartigen Disziplinen denkbar ist und betrieben werden kann.

Hiermit wäre zunächst negativ ein altes Vorurteil beseitigt, aber positiv ist im Vorhergehenden auch bereits der Genealogie ihre Stellung unter den Wissenschaften angewiesen worden. Die Genealogie ist einfach eine Sozial¬

wissenschaft, weil sie sich mit der kleinsten natürlichen Gemeinschaft, der

Familie, beschäftigt und einerseits das Einzelwesen im Verhältnis zu der Familie, der es entsprossen ist, andrerseits die Familie in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft betrachtet. Zur älteren Bevölkerungswissenschaft und zu der

jüngern sogenannten „Gesellschaftsbiologie“ steht die Gencalogie in gleich nahen Beziehungen und bildet in gewisser Hinsicht Unterabteilungen

dieser

Wissenschaften, wenn sie auch in andrer Richtung über sie hinausführt. Das¬

jenige, was der Genealogie gerade in unsrer Zeit ihre Bedeutung verleiht, ist

der Umstand, daß sie ein geeignetes Mittel ist, um in das Wesen des Gesell¬

schaftslebens einzudringen und dadurch wiederum der Sozialpolitik zu einer

gewissen festen Grundlage zu verhelfen. Denn das ist ja selbstverständlich, daß der Gesetzgeber, der bestimmte soziale Ziele verfolgt, erst die Tatsachen des Gesellschaftslebens kennen und von einer bestimmten darin herrschenden Gesetz¬

mäßigkeit überzeugt sein muß, ehe er bestimmte Vorschläge auf ihren Wert im Verhältnis zu dem beabsichtigten Zwecke zu prüfen vermag. Leider ist in

Wirklichkeit das Verhältnis umgekehrt gewesen: unvermittelt ist die sozial¬

politische Arbeit in Verfolgung allgemeiner philanthropischer Ziele aufgenommen 34

worden, und erst von ihr aus ist die Wissenschaft dazu gelangt, sich mit dem Wesen des Gesellschaftslebens, der Gesellschaftsbiologie, zu beschäftigen. Die Bedeutung der Genealogie für letztere liegt darin, daß mit ihrer Hilfe der Aufbau und die der Herkunft nach bestimmte Zusammensetzung einer ge¬

wissen Gesellschaft ermittelt und die Verbindung zwischen dieser und einer um ein halbes oder ganzes Jahrhundert älteren Gesellschaft hergestellt werden kann.

Dies bedarf einer nähern Erläuterung.

Wir besitzen in neuerer Zeit Berufszählungen, die uns eine zahlen¬

mäßige Vorstellung von der beruflichen Zusammensetzung unseres Volkes in einem bestimmten Augenblicke vermitteln. Mehrere solcher Berufszählungen liefern unter einander vergleichbare Ergebnisse, und diese zeigen, welche großen Veränderungen unter Umständen binnen weniger Jahrzehnte vor sich gehen

können und tatsächlich vor sich gegangen sind. Um das nächstliegende fast

täglich in der Tagespresse berührte Beispiel heranzuziehen, sei auf die pro¬

zentuale und sogar teilweise absolute Verringerung der landwirtschaftlichen Bevölkerung des Deutschen Reiches hingewiesen; hierüber läßt sich tatsächlich

reden, da wir in dieser Hinsicht seit 75 Jahren ziemlich genaue zahlenmäßige Angaben besitzen. Die Statistik klärt uns über diese Verhältnisse in dankens¬

werter Weise auf, aber trotz alledem sind ihre Zahlen tot, denn jedes Einzel¬

wesen erscheint in ihr nur als Nummer und nicht als Persönlichkeit;

alles, was den Menschen ausmacht und ihm sein besonderes Gepräge verleiht, durch das er seine bestimmte Gesellschaftsstellung erhält, wird absichtlich ausgeschieden; nur die Tatsache wird gebucht. Der Genealogie

fällt nun u. a. die Aufgabe zu, den statistischen Zahlen Leben einzuhauchen, indem sie an einer Menge von Beispielen, die nicht groß genug sein kann, zeigt, in welcher Weise sich die Berufe und Tätigkeiten, in denen ja das

Persönliche zum Ausdruck gelangt, vom Vater auf den Sohn und Enkel ver¬

erbt haben oder in wie weit in den verschiednen Generationen verschiedne Berufe auftreten. Wenn man z. B. nachweisen könnte, was aus den sämt¬

lichen Nachkommen von 30 im Jahre 1825 in einem beliebigen Dorfe iebenden Bauern geworden ist, welchen Beruf jeder einzelne Sohn, Enkel und Urenkel

bis heute ergriffen hat, — dann erst würde man andeutungsweise verstehen,

welcher Art die Veränderungen im Gesellschaftsleben sind, die sich im letzten

Jahrhundert vollzogen haben. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß in den 30 Stammtafeln, die ich soeben fingierte, eine Menge Gleichmäßig¬

keiten zu erkennen sein würden, aus denen sich gesellschaftsbiologische Gesetze ableiten lassen, sobald ein genügend umfangreiches Beobachtungsmaterial vor¬

liegt. Aus den als fertig angenommenen 30 Stammtafeln würden sich natürlich sofort die Ahnentafeln für alle darin als lebend genannten Personen heraus¬

lösen lassen, und diese würden ein ganz besonders zu vergleichender Arbeit reizendes Material darstellen, denn in ihnen würde sofort das soziale Auf¬

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