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Klimatische Stoffontologie

Wilhelm Lehmann und der klimatische Stoff

5. Klimatische Stoffontologie

Wenn Lehmann das Vage, Schwebende und Leichte seiner Poetik und Dichtung stofflich konzipiert, dann deutet das auf eine besondere Stoffontologie hin, die den Stoff nicht nur als vorhandene Sache oder tote Materie auffasst. Wie das Pflaume-Bild schon zeigte, wird der Stoff bei Lehmann nicht in der metaphysischen Subjekt-Objekt-Tradition als inerte bzw. zu bemeisternde Materie verstanden; es findet keine Privilegierung der Form (eidos) gegenüber dem Stoff (hyle) statt. Lehmann war als junger Student von der ionischen Naturphilosophie des Hylozoismus beeinflusst, der „an die Existenz eines Urstoffs oder eines Prinzips glaubte, das die Gestalten der Dinge aus sich heraustrieb“ (Goodbody 1984:192). Die Materie wird als „belebt und beseelt“ (Goodbody 1984:192) verstanden. Dem hylozoistischen Stoff wird demzufolge ein inhärentes Selbsthervorbringen zugetraut, das auf einen materialistischen Monismus hindeutet, der u.a. von F.W.J. Schelling ausging, dessen Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) Lehmann sich schon früh zu eigen machte (vgl. Goodbody 1984:193f.).

Der Hylozoismus ruft dann außerdem die Romantik-Rezeption in Erinnerung. Goodbody hat hervorgehoben, dass es eine Kontinuität zwischen dem Hylozoismus und der romantischen Naturphilosophie gibt, z.B. bei Schelling (vgl. Goodbody 1984:192).

So kann auch die stoffliche Auffassung der Schwebe Brentanos –

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„die Materie des Alls gibt und nimmt sich, tauscht sich aus und schwebt“ (Lehmann 2006:15) – in diese Tradition eingestuft werden. Durch den Einfluss des Hylozoismus sowie der Romantik wurde eine sich selbst bewegende, überschreitende und in der Weise hervorbringende Stoffauffassung entdeckt; damit lässt sich m.E. die geschichtliche und philosophische Grundlage einer nach Vagheit, Verwischung, Leichtigkeit und Schwebe strebenden Stofflichkeit finden, welche die Poetik Lehmanns bestimmt. Anders gesagt: Stoffontologie etabliert Poetik.

Die frühe Auseinandersetzung mit dem Hylozoismus und d.h.

mit der Annahme eines belebten Urstoffs ist auch für die Nachkriegspoetik von Bedeutung, wie schon in der Einleitung betont wurde (vgl. Lehmann 2006:121). 1952 weist Lehmann explizit darauf hin: „Dem Dichter sind die Dinge nicht Stoff, abgesondert vom Geist. Materie ist ihm ein inspiriertes Phänomen“

(Lehmann 2006:406). Dennoch ist der hylozoistische Stoff in den poetologischen Essays der Nachkriegszeit nur zerstreut präsent, nimmt aber oft eine zentrale Stellung in der Argumentation ein.

In einem am 13. Oktober 1950 in Darmstadt gehaltenen Vortrag „Wirkungen der Literatur“ erläutert Lehmann noch einmal seine Poetik, gibt zudem einen Hinweis, wie Dichtung stofflich gedacht wird:

[Das Gedicht] ist knapp, aber von der schwankenden Knappheit einer Frucht; sein Wort ist reinlich, schmeckt aber nach Erde wie die Hand des alten Lear;

[…]; die Genauigkeit der Einzelheit zerstreut sich in das Ganze. Des Totalerlebnisses werden wir nur mittels des Einzelerlebnisses inne. Wieder geschieht das Widersprüchliche: gefesselt atmen wir frei und richtig. Auf dem Wege zum Werk lauern viele Gefahren: Die Pole berühren sich nicht, der Funke bleibt in der Materie, der Stoff gibt seine Gleichgültigkeit nicht auf. Wenn aber der Blitz geschieht, spaltet sich wie im Gewitter die abgestandene Luft, löst Wirklichkeit die Unwirklichkeit ab, erfrischt ein Ozongeruch. Nur so wird, zumal uns Heutigen, auch die Idee zugänglich (Lehmann 2006:390).

186 Lehmann verwendet hier konsequent die gleiche Figur des Widerspruchs: Etwas Konkretes, Festes und Solides wird mit Abstraktem, Unfestem und Dynamischem gleichzeitig verbunden, wodurch das erwünschte paradoxale bzw. geglückte Gedicht eingekreist wird. Es ist knapp/schwankend, erdhaft/rein, genau/zerstreut, gefesselt/frei, materiell/blitzend. Voraussetzung ist, dass die Materie explizit einbezogen wird und gerade in der Weise, dass das gelungene Gedicht einem Funken der Materie selbst entspringt. Der Stoff im Gedicht ist also selbstzündend bzw.

aktiv-lebendig – wie der hylozoistische Stoff – und es gilt geradezu diesen Blitz der Materie in der Dichtung aufscheinen zu lassen.

Dichtung ist dann genau, wie es anderswo heißt, die „Jubel der Materie“ (Lehmann 2006:261).

Bezeichnenderweise wird dieses stofflich-vollzogene Ziel der Dichtung mit einer Erneuerung der Luft kennzeichnet, d.h. wenn der Stoff sich im Gedicht vollzieht, bildet er eine eigene Atmosphäre, einen Luftraum. Will heißen: Der Funke des Stoffes zündet und eröffnet eine atmosphärische und schwebende Ganzheit. Lehmann spricht davon, dass „[d]ie Poesie […] sich aus dem luftlosen in dem luftig erfüllten Raum [bewegt]“ (Lehmann 2006:278), dass ein Gedicht sozusagen ein „Mikroklima“ (Lehmann 2006:310) aufweist. Das Gedicht scheint über eine materielle Erde zu verfügen, die sich aber immer wieder ausbreitet und über-schreitet, um ins Atmosphärische und Reine zu kommen – oder:

Seine Erde ist klimatisch aufgefasst und erschlossen. Die ansonsten verschlossene und in sich ruhende Erde – so bei Heidegger – entsteht im Gedicht als offener, zerstreuter, vager und d.h. letztlich lyrischer Stoff. Das Gedicht vermag dann nach Lehmann als eine Art Sprachrohr dieses Stoffes zu wirken, wie es in einer Notiz des Jahres 1944 heißt: „Wölfflin sagte, der große Maler wisse, wie der Materie zumute sei. Sie spricht auch im Gedicht ihr stummes Leben aus“ (Lehmann 2009:256).53 In Lehmanns Poetik des Vagen und Leichten kommt der klimatische Stoff selbst zum Wort.

53 Dass das Gedicht die Fähigkeit hat das Schweigen der Materie mit sinnlich-rhythmischen Worten hervorzubringen, ist in den poetologischen Essays Lehmanns vielfach präsent. So schreibt er exemplarisch: „Erfülltes Schweigen vor der Fülle des Hervorgebrachten, angeschaute Welt, rhythmisch hergestellt,

187 Kurz: Der Stoff als detaillierter Naturgegenstand erschließt sich hylozoistisch in der Weise, dass er sich selbst auflöst, aus sich entspringt und vag, schwebend und leicht wird – d.h. der sachlich-umrissene Gegenstand geht ins Atmosphärische und Klimatische über. Genaugenommen ist Lehmann eigentlich nicht nur Dichter der botanischen oder zoologischen Naturdinge – wie bereits von der betont naturgeschichtlichen Sachlichkeitsforderung schon angedeutet – sondern erscheint endgültig als Dichter der luftigen und klimatischen Dinge wie etwa Wind, Duft, Wärme und Geräusche. Wie Scrase pointiert: „Fast genauso wichtig wie die Hitze im Juli ist in Lehmanns dichterischen Szenarien der Wind“

(Scrase 2011:330, vgl. hierzu über Wind: Scrase 1972:96ff.). Dass Lehmann in seinen Gedichten atmosphärische Phänomene favorisiert, beruht m.E. auf seiner Auffassung des Stoffes, gründet in seiner klimatischen Stoffontologie, die zugleich mit der Vagheit und Leichtigkeit poetologisch formuliert wurde.

Diese Tatsache soll aber nicht zur falschen Konklusion führen, dass Lehmann bereits hinüber der Erde, der Schwere und also der Sachlichkeit zu kommen sucht. Keineswegs – derartige Radikalität wäre für Lehmann fremd und irrig. Die klimatische Stoffontologie balanciert, überschreitet aber niemals den Erdboden.

Eine Dichtung ohne Erde wäre für ihm reines Unsinn, wie er 1963 schreibt: „Der luftigsten Spekulation haftet ein Erdenrest an. Sie wäre uns sonst unverständlich. In der Dichtung wird dieser Rest zu ihrer Stärke. Entkörperte Dichtung ist keine“ (Lehmann 2006:350).

Wie früher erwähnt formuliert Lehmann auch diese Standpunkt in dem Gedicht „Etwas“ (1956): „Laß mich noch nicht ganz verschweben, / Dieses Etwas sei mir alles!“ (Lehmann 1982:252).

die Kunst als Jubel der Materie“ (Lehmann 2006:261). Goodbody hat dieses Thema der schweigenden Sprache der Natur bei Lehmann näher umschrieben (vgl. Goodbody 1984:237ff.). Mit der Betonung des Schweigens und der Stummheit teilt Lehmann übrigens eine Gemeinsamkeit mit Heidegger und Kommerell, indem beide, wie früher erläutert, die Dichtung als ein Sagen des Unsagbaren bzw. der Erde verstanden, etwa als Rhythmus, Stimmung oder Ton. Insbesondere Kommerells Kleist-Aufsatz von 1937 – „die schönsten Gedichte gewinnen uns durch das, was in ihnen stumm bleiben will“

(Kommerell 2009:243) – spiegelt direkt Lehmanns Behauptung; Lehmanns Wertschätzung des Kleist-Aufsatzes ist biographisch belegbar (vgl. Jung 2008:20).

188 Die Vertikalität seiner Poetik enthält eine aufsteigende und in der Luft kommende Richtung, aber nur um gleichzeitig eine absteigende auf der Erde zielende Richtung zu vollziehen und bestätigen – beide sollen dann gerade die Balance des Gedichts garantieren. Für Lehmann geht es dann am Ende darum die Sachlichkeit der Erde treu zu bleiben, wozu genau die Schwebe und die Vagheit dienen sollen. Der Erdenrest, der von dem Prozess des Entschwebens und des Leicht-Werdens übrigbleibt, ist der seine Poetik gründende klimatische Stoff. Letztlich ist Lehmann kein Luftgeist, sondern wahrlich ein Dichter des fest in der Erde verwurzelten Klimas – seine Poetik ist die einer sachgebundenen Leichtigkeit. Sein ketzerische Nachfolger Krolow wird aber diese Emphase der Erdentreue herausfordern und umdeuten, um eher eine lufttreue Poetik und Lyrik entstehen zu lassen, wie im nächsten Kapitel erläutert werden soll.

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Kapitel IV: