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J.W. von Goethes östliche Leichtigkeit

Max Kommerell und der atmende Stoff

3. Ontologie der Materie

5.2. J.W. von Goethes östliche Leichtigkeit

Innerhalb der Schriften Kommerells dient Goethe als das idealtypische Modell der an den gegenständlichen Anlass gebundenen Betroffenheit des Stimmungsbegriffs – wie es im Lyrikaufsatz heißt: „[A]uf der Welt zu sein, in der Welt zu sein, und es entsteht dann etwas wie Goethes Mignonlieder“ (Kommerell 1985:17). In Goethe findet Kommerell einen Dichter, der ganz und gar von der stofflich-dinglichen Welt abhängig ist und genau in dieser Abhängigkeit seine Bestimmung findet: „Er bedarf, damit ihm das eigene Wesen in den Griff kommt, eines Gegenstandes, an dem es ihm erscheint“ (Kommerell 1985:60). Gedicht, Seele und Erde kommen bei Goethe ganzheitlich zusammen und bedingen einander auf harmonische Weise. Weichelt hat seine Studie über Kommerells Lyriktheorie maßgeblich diesem betroffenen Goethe gewidmet (vgl. das Goethe-Kapitel in Weichelt 2006:123-241).

76 Nach Weichelt ist Goethe ein „paradigmatisches Gegenmodell zur modernen Entwicklung der Auflösung und Verinnerlichung“

(Weichelt 2006:330), d.h. zu Jean Paul und die modernen Luftgeister. Ich möchte diese Seite Goethes im Jean Paul-Abschnitt behandeln und vertiefen, indem er explizit als Anti-Jean-Paul-Figur inszeniert wird.

Es gibt aber auch Erläuterungen Kommerells über eine andere, nicht nur betroffene Seite Goethes, die ihn in die Nähe vom selbstüberschreitenden und so die Betroffenheit auflösenden Stimmungsbegriff rückt. Diese Seite findet Kommerell im Spätwerk Goethes, zum Beispiel in der Sammlung West-östlicher Divan (1819/1827). Bereits in der frühen Rede Jugend ohne Goethe (1931) wird dieses Charakteristikum kurz erwähnt:

In der silbernen Durchsichtigkeit seines wissenden Alters stehen auch die schwersten Massen so, dass wir glauben, sie wie Kristalle in der Hand wiegen zu können. Noch die Benennung der tiefsten Leidenschaft ist ein Sehen und Schweben von oben, ist äolisch: verfeinerter Luftgeist (Kommerell 1931:29f.).

Das zentrale Motiv der schweren Masse, die jetzt als durchsichtig, leicht und schwebend erscheint, wird hier introduziert – es war auch in Kommerells Stimmungsgedicht „Berg und Wolke“ (vgl.

Kommerell 1973:247) präsent. Hiermit wird Goethe als „Luftgeist“

gekennzeichnet: Genau die vertikal erhobene Position lässt die Erdmasse als luftig und atmosphärisch erscheinen. Dazu bezeichnet Kommerell seine Sprache als „betont gebärdelos: ein unermesslicher Inhalt macht das leichteste Wort überwältigend innig“ (Kommerell 1931:29). Zwei Jahre später wird er in seiner Jean Paul-Studie diese Gebärdenlosigkeit die reine Gebärde benennen, d.h. eine ganz um sich selbst geschlossene, innerliche und bezugslose Sprache. Die sonst begrenzte und gegenstandsbezogene Dichtung Goethes wird hier durch etwas Unendliches und Leichtes aufgelöst.

Worin dies besteht wird in dem zwölf Jahre später herausgegebenen Aufsatz „Der Divan“ (1943) aus Gedanken über Gedichte weiter erläutert. Er behandelt Goethes Entdeckung des

77 Ostens, aber nicht als eine faktisch-physische Betroffenheit oder Anlass, sondern als die Begegnung mit einer geistigen durch orientalische Gedichte des Dichters Hafis gebauten Welt. Seine Divan-Dichtung hat ihren Anlass in anderer Gedichte – oder wie Kommerell schreibt: „Lust der Dichtung an sich selber“

(Kommerell 1985:254). Was hier erscheint ist dann etwas anderes als der gegenständliche Goethe:

Er ist ein Geist der Sinnlichkeit, der Schärfe des Sehens, eine Durchsichtigkeit der Luft, ein hellstes Wissen in glühendem Gefühl, ein Geist von Übermut, Spiel und Verzauberung; immer wieder wird man zu Worten wie „Luft, Atmosphäre“ greifen (Kommerell 1985:258f.).

Diese entscheidenden Betonungen von ‚Luft‘ und ‚Atmosphäre‘

sind die Merkmale, die die Stofflichkeit dieser neuen dichterischen Welt bezeichnen sollen. Dass diese sich nicht von der Gebundenheit begrenzt sieht, wird mit den Worten ‚Spiel‘ und

‚Verzauberung‘ unterstrichen, die eine gewisse Distanz ermöglichen. Der Divan-Goethe dieses atmosphärischen Geistes findet sein Korrelat in der östlichen Welt, oder: Goethe findet sich selbst in dieser östlichen Leichtigkeit wieder. Entstanden ist dann eine Dichtung der Schwebe: „Mit dem Schwebenden dieser Sageweise kommt der herrliche Leichtsinn Goethes zusammen. […]

Nie hat Goethe so in seiner Eigenheit geschwelgt“ (Kommerell 1985:275). Diese Dichtung wird aber von Kommerell mit der modernen Dichtung schlechthin gleichgesetzt; es scheint, dass die Divan-Dichtung eine Brutstätte der Moderne ist: „Manchmal leidet die moderne Dichtung daran, dass die Sprache in sich selbst eine Möglichkeit der Verzauberung entdeckt hat und darüber die Demut verliert. Sie ist nicht mehr Medium. Im Divan beginnt das, aber in köstlicher Frische und Unschuld“ (Kommerell 1985:276f.). Die moderne Dichtung ist eine Selbstverschwendung der Sprache, ein Überfluss, ein selbstgenießerischer Umgang mit sich selbst und das bedeutet ein Abschied vom Bezug zur Welt und zu den gebundenen Gegenständen.

78 Dies geschieht zum Beispiel im Gedicht „Vollmondnacht“, das Kommerell gründlich analysiert. Die Beschreibung dieses Gedichts ist auch der Entwurf einer modernen Poetik – „diese allermodernsten Kunstmittel“ (Kommerell 1985:278) – und lässt offensichtlich als Stimmungskunst identifizieren:

[W]ollte man ein Vorbild dieser Stimmungskunst namhaft machen, so müßten es gewisse lyrische Einlagen Calderons sein. In der Tat hat sich Goethe zu dessen „Östlichkeit“ in einigen Versen bekannt, wie in Prosa zu der Östlichkeit Jean Pauls. Der Stil dieses Gedichtes ist dadurch vorhanden, daß der berührte Osten etwas bislang Verborgenes in Goethes Seele aufregt und hervorlockt, das sogleich zu schwingen beginnt; und je ausgesprochener das Ferne vorwiegt, um so mehr fühlt Goethe, sich zuhörend, sich von Eigenstem überrascht. Man kann es bestimmen als ein Freiwerden der Klänge und Farben; Wirkliches ist dafür nur Vorwand; es wird wahrgenommen, insoweit es zum Reiz wird, die im Reiz heftig und bis zum Entzücken angesprochenen Sinne vermischen ihre Sphären, so wie es der Sprache und nur ihr möglich ist. In dieser Mischung wird ein Vermögen der Sprache entdeckt, und sie kann gar nicht bereitet werden, ohne daß das feinste geistigste Glück der Seele wie ein irrender, gehauchter Klang von den berührten Sinnen aufsteigt. Nur Reiz, nur Seele; nicht Umriß und Dichtigkeit der Dinge; dies zu verlieren, ist hier der Reichtum der Kunst (Kommerell 1985:277).

Nicht nur setzt Kommerell hier Goethe in direkte (positive) Verbindung mit Jean Paul, er beschreibt auch eine Kunst, die sich auf synästhetischer Mischung der Sinne, Farben und Klänge, auf Reiz der Seele mit sich selbst und der Sprache und letztlich auf einem völligen Zurücklassen der Schwere der Erde gegründet ist – ein Echo der Beschreibung des Fortlassens des Dinglichen im Venedig-Gedicht. Hiermit entsteht eine leichte atmosphärische wie auch geistige Welt. Eine derartige Beschreibung könnte auch für Baudelaires Gedicht „Harmonie du soir“ (1857) Geltung haben.

Was aber Goethe gleichwohl nicht zu einem Jean Paul macht, ist seine Verbundenheit, seine Gegenständlichkeit: „[E]r gleicht im Gedicht die Schwelgerei mit der sonst beliebten Gegenständlichkeit aus“ (Kommerell 1985:278). Genauer: Goethe bindet die

79 entbundene und formlose Mischung durch die Form des Kehrreims, d.h., durch die Wiederholung von „»Ich will küssen!

Küssen! sagt ich«“. Was Kommerell in der Divan-Dichtung Goethes findet ist eine lyrische Position, die leicht, atmosphärisch, luftig ist, ohne jedoch völlig entbunden-gegenstandlos, d.h.

innerlich zu werden – eher gibt es ein balancierendes Ausgleichen zwischen Luftgeist-Sein und Erdgebundenheit, das nicht bei Jean Paul hervorsticht, sondern eher bei dem frühen Hofmannsthal vorkommt.

Kurz: Goethe findet eine geistig-dichterische Welt, die eine spezifische Ausgabe seiner selbst enthält und dadurch entdeckt er sich selbst als leichtes, luftiges Wesen, eben als Luftgeist. Hierin spricht sich eine spezifische Stimmung aus, wo die stoffliche Betroffenheit nicht mehr ein konkret-gebundener Anlass ist, sondern eher als geistig und künstlerisch erscheint, wie der Anlass als Musik in Nietzsches Venedig-Gedicht. Beide lassen konsequenterweise eine neue stoffliche Welt erscheinen, in der alles schwebend und flüchtig ist – gemäß Kommerell, ‚wird man zu Worten wie „Luft, Atmosphäre“ greifen‘.

Gerade Nietzsche ist im Divan-Aufsatz ein wichtiger Akteur.

Kommerell entwirft die folgende Kopplung: „[W]as Nietzsche mit seinem Schlüsselwort „afrikanisch“ bezeichnet, beginnt im Divan“

(Kommerell 1985:259). Man kann demzufolge schließen: Der späte Goethe erscheint als entscheidende Quelle für Nietzsches lyrisch-musisches Venedig.24 D.h. das Afrikanische ist Nietzsches Wort für die von Goethe hervorgehobene östliche Welt der schwebenden Leichtigkeit. In einem Brief an Heinrich Köselitz vom 31. Oktober 1886 schreibt er: „Bei der Reise nach Nizza empfand und sah ich ganz deutlich, daß hinter Alassio etwas Neues beginnt, in Luft und

24 Dass es auch einen direkten Zusammenhang zwischen Nietzsches Venedig-Gedicht und Goethe gibt, darauf hat Roger Hollinrake hingewiesen (vgl.

Hollinrake 1975:141). Goethe beschreibt am 6. Oktober 1786 in seiner Italienische Reise (erst 1813-1817 entstanden) die Wirkung des „famosen Gesang[s] der Schiffer“ (Goethe 1988:84) und kommt zur folgenden

Konklusion, die deutlich zwei Motive des Venedig-Gedichts enthält: „Da ward mir der Sinn des Gesangs erst aufgeschlossen. Als Stimme aus der Ferne klingt es höchst sonderbar, wie eine Klage ohne Trauer; es ist darin etwas

unglaublich, bis zu Tränen Rührendes“ (Goethe 1988:85).

80 Licht und Farbe: nämlich das Afrikanische“. Das Afrikanische ist auch mit dem Musikthema Nietzsches auf entscheidender Weise geknüpft. In Der Fall Wagner (1888) wird der Unterschied zwischen Norden (Richard Wagner) und Süden (Georges Bizet) herausgestellt, der auch luftig-klimatisch gedacht wird, etwa zwischen Feuchtigkeit, Wasserdampf und Trockenheit, Hitze (vgl.

Nietzsche 1999b:15). Die Entdeckung dieser südlich heiteren Musik, die auch im Prosatext zum Venedig-Gedicht erwähnt wird, ähnelt annähernd Goethes Eindruckskraft der Entdeckung des Ostens:

Hier redet eine andre Sinnlichkeit, eine andre Sensibilität, eine andre Heiterkeit. Diese Musik ist heiter; aber nicht von einer französischen oder deutschen Heiterkeit. Ihre Heiterkeit ist afrikanisch;

sie hat das Verhängnis über sich, ihr Glück ist kurz, plötzlich, ohne Pardon. Ich beneide Bizet darum, dass er den Muth zu dieser Sensibilität gehabt hat, die in der gebildeten Musik Europa’s bisher noch keine Sprache hatte, – zu dieser südlicheren, bräuneren, verbrannteren Sensibilität…Wie die gelben Nachmittage ihres Glücks uns wohlthun! (Nietzsche 1999b:15).

Vieles kehrt offensichtlich im Venedig-Gedicht wieder: Süden, Musik, Heiterkeit sowie das Braune. So ist die in den Divan-Gedichten offenbarte atmosphärische Leichtigkeit bei Nietzsche als das Afrikanische bzw. das Musische rezipiert.

Wenn eine gemeinsame Überschrift dieser Luftgeist-Dichtungen Goethes und Nietzsches verwendet werden soll, dann schreibt Kommerell zögernd: „Es ist nicht gerade neu, dergleichen mit Impressionismus zu bezeichnen. Der Ausdruck mag hingehen;

man muss nur angeben, was man damit meint“ (Kommerell 1985:277). In derselben Weise hat Lösel vorgeschlagen, Nietzsches Venedig-Gedicht als impressionistisch zu bezeichnen, aber mit einer besonderen Bedeutung, etwa „as an experience of evanescence, of the mutability of things and as an attempt to present a dematerialised world“ (Lösel 1967:65). Obwohl ich nicht dieser entmaterialisierten bzw. spiritualisierten Auslegung des Venedig-Gedichts zustimme, lässt Lösels Versuch einer

81 Bestimmung des Gedichts die Verwandtschaft zwischen Divan-Goethe und Nietzsche hervortreten. Das Impressionistische wird sodann ein wichtiges Charakteristikum der luftigen Moderne, welches auch für die Poetik Hofmannsthals und die Kulturdiagnostik Simmels Geltung hat. Goethe sowie Nietzsche lassen eine Welt ohne Schwere, Umriss und Härte erscheinen, genau dies zu verlieren – sowohl in einer atmosphärischen Subjektivität sowie einer leichten und flüchtigen Stoffwelt – ‚ist hier der Reichtum der Kunst‘, wie Kommerell betonte. Kein Autor macht aber diesen impressionistischen Reichtum deutlicher und extremer als Jean Paul.