• Ingen resultater fundet

Eine Andachtsstunde

In document THE DET (Sider 114-117)

Ich habe einmal gehört oder gelesen, daß es eine Mutter gab, die täglich mit ihrem Töchterchen außerhalb der Stadt, am Waldesrand sitzend, eine Stunde verbrachte. Dort saßen sie und schwiegen miteinander. Schwiegen und sahen die Blumen ihre zarten Gesichter gegen die Sonne wenden, sahen die Schnecken friedlich über den Wegstaub schleichen, sahen die Sonnenfunken zurückwerfen von den glitzernden Kiesel­

steinen. Schwiegen und fühlten die Spannkraft der all­

gewaltigen Kuppel, die höher als die kühnsten Gedanken von Horizont zu Horizont reicht. Ganz stumm saßen sie da, Mutter und Kind, während die Sonne sich eine Stunde weit entfernte.

Sie kamen Gott nahe, und die Ewigkeit tat sich vor ihnen auf.

Jene Frau nannte das: ihre Andachtsstunde.

*

Wir Menschen brauchen wohl alle zuweilen eine Andachts­

stunde. Die meisten gehen dann in eines jener Häuser, die dem Ewigen zu Ehren gebaut sind, und knien dort in Stille, nur die Lippen leise bewegend. Aber viele gehen von dort beladener und hoffnungsärmer als sie kamen. Einem .solchen Menschen kann es geschehen, daß er auf seiner Wanderung einem Kinde begegnet und in seinem gläubigen Lächeln findet, was er im Dom vergeblich suchte: inneren Frieden.

Dieser Friede war auch zu finden in dunklen Wäldern, an stillen Flüssen. Er konnte durch die Luft in weichen, weißen Flöckchen niederschweben oder in die Seele dringen auf den Klängen eines alten Wiegenliedes. Aber die großen Wälder werden umgehauen, um dem Feind jede Zuflucht zu rauben,

73 e«©^Goe<»©ac<3c<Te«e«G<»

im stillen Strom schwimmen heimtückische Treibminén, der Schnee, der zur Erde fällt, wird rot gefärbt — und jedes Wiegenlied scheint ein Hohn auf die Natur und auf Gott.

*

Die Theater, die Konzertsäle, die Variétés sind voll, Abend für Abend. Der Unverstand wäre da versucht zu glauben, daß die Menschen gedankenlos und gleichgültig seien, während sie nur für ein paar Stunden Vergessenheit trinken wollen.

Wenn der Vorhang fällt und der Zuschauerraum sich leert, ist es vorbei mit dem Friedensrausch.

Ich aber weiß eine Stelle, wo sich die Menschen mit einem Lächeln treffen und mit einem Lächeln trennen. Ein Andachtsort, rein und schön, wie jener Waldessaum. Dort sitzt eine andächtige Volksmenge, leicht vorgebeugt, mit halb­

offenen Lippen, sehnsüchtigen Augen und einer entrückten Haltung, als flöße das zärtliche, sonnige Lächeln des Mundes durch alle Glieder. Was ist es, was von allen Gesichtern Sünde und Sorge weglöscht, und das Herz erklingen läßt wie eine Amati unter Meisterhänden. Was sieht man? Zwei junge Frauen, die miteinander tanzen. Nur das. Sonst nichts.

Elsa heißt die eine. Berta die andere. Schwestern sind sie, aus Wien, und jung und schön. So haben sie getanzt, als sie als kleine Kinder zum ersten Mal das weiche und schmiegsame Gras im Garten unter ihren Füßen spürten und die Schmetterlinge und Blumenblätter durch die Luft schweben sahen. So haben sie getanzt, als ihre Mutter zum ersten Mal auf dem altmodischen Klavier in der guten Stube einen jener schmeichlerischen und sorglosen Walzer spielte, die Wien zum Hauptplatz des Tanzes gemacht haben.

Die Zeit schritt vorwärts, sagt man. Sonderbare Melodien wurden geschaffen, magisch und geheimnisvoll wie die Formen und Düfte seltener Orchideen. Die neue Dichtkunst wurde zum Urwald, in dessen dunklem Gestrüpp selbst der Dichter umher­

irrt. Die neue Malkunst tauchte über Nacht aus dem Meere der Zeit wie eine Koralleninsel. Der Tanz wurde eine Wissen­

schaft, in die nur die Adepten einzudringen vermochten. Das alles scheinen diese Schwestern nicht zu wissen. Oder sollten

74 eo©!j©<j©<je<ie<j©!3e<je!3eo

sie es etwa nicht wissen wollen ? Wenn sie die sachten wiegen­

den Weisen der Vergangenheit hören, wird ihr Wesen be­

schwingt, heben sich ihre Glieder und folgen unwillkürlich den Tönen.

Wir sitzen still und schauen: da stürmen sie herein wie edle Vollblutpferde, spielend auf unabsehbarer Steppe. Und jetzt: voller Anstand wie junge Königinnen, während man ihnen die Krone aufs Haupt setzt. Und jetzt wirbeln sie be­

zaubernd wie Kirschenblüten vom Baum. Nun tanzen sie eine derbe altmodische Polka so bedeutsam und rücksichtsvoll, als fürchteten sie, die Blumen zu zertreten, die unter ihren Füßen eben aus dem Boden sprossen wollen.

Und dann Elsa allein. Die braune schlanke Mädchen­

gestalt, mit glühend rotem Gürtel und roten Bändern, die von den Locken und Kastagnetten flattern. Ihre schwarzen Augen sprühen Funken. Kein Straßenjunge von Murillo hat mehr Lebenslust und Lebenstrotz. Tausend schelmische Launen in der Sekunde. Und während Elsa und Berta Wiesenthal vor der betrübten, müden Menschheit tanzen, hört jeder die Kirchen­

glocken seiner Heimat den Menschheitsfrieden einläuten.

In keiner anderen Stadt, in keinem anderen Land gibt es etwas, was diesen Schwestern zu vergleichen wäre. Sie sind aus der gleichen köstlichen Naturlaune hervorgegangen, die einen Mozart, einen Schubert schuf, einen Fra Angelico und einen Deila Robbia, die die Akazie aus dem Boden auf­

steigen läßt.

•Ich wünschte, diese Schwestern könnten als Traumgesichte jenen Jünglingen erscheinen, die im Schützengraben ihr un­

erhört opfervolles Werk tun oder auf dem Schlachtfeld liegend auf ein gnädiges Ende harren. Jene würden neue Hoffnung auf kommende Glücks- und Sonnentage schöpfen, diese mit einem sanften Lächeln entschlummern.

In document THE DET (Sider 114-117)